Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Bedeutung lechzend. – Die Unruhen in Ungarn. Jetzt haben sie ihre Situation begriffen und antworten auf die rationalen Erfordernisse mit irrationaler Gewalt und Zerstörung. Und unterdessen und immer wieder: «Ach, ich muß sterben, ich muß sterben …» – Der Jammer wird verstärkt durch die Unsicherheit, das Fehlen einer nächsten Aufgabe. Wenn ich daran denke, daß ich einmal Schriftsteller war … «Es kribbelt», wie der Geiger in Szigliget einmal sagte. Vorläufig umgibt mich ein Chaos von Papieren, Akten, Korrespondenzen, und übermorgen reisen wir nach Frankfurt; das Gefühl der Niederlage, ja, des Durchfallens begleitet mich …
3 . Oktober 2006 … unseren grauenhaften Siegen widerstehen …
8 . Oktober 2006 Von der Frankfurter Buchmesse zurück. Merkwürdige Erlebnisse. Große Presse. Schließlich mündete dennoch alles in ein Fiasko.
10 . Oktober 2006 Mir sind in Berlin kaum noch Freunde geblieben; ich weiß nicht, wieso sie mir verlorengegangen sind. Die politische Situation in Ungarn; und Nord-Korea hat eine Atombombe gezündet. Mir fällt die ungarische Rezeption von
Ich – ein anderer
im Jahr 1997 ein; der «Szadesz» – der gerade nach der Koalitionsführung strebte – nahm das von mir skizzierte chaotische Zukunftsbild damals mit sonderbarer Verletztheit auf.
11 . Oktober 2006 Existentielle Ängste.
14 . Oktober 2006 Die alten Bilder der Judenverfolgung.
15 . Oktober 2006 Nacht. Der Große Ekel. In jeglicher Hinsicht.
19 . Oktober 2006 Gestern nachmittag von der Lesung aus Stuttgart zurück. Großer Erfolg. Mein derzeitiges Leben war wie aufgehoben.
24 . Oktober 2006 Das Leben, das ich führe, ist schlecht, falsch und schwer. Trotzdem liebe ich dieses Leben. Ich hause auf dem tiefsten Grund des Nicht-Ichs. In dieser Hinsicht muß ich Ágnes Hellers
Dossier-K.
-Analyse für völlig angemessen und scharfsinnig halten. Daß ich «Versteck spiele» und mich über mich selbst ausschweige, ließe sich nicht ermitteln, wenn ich nicht selbst das Material dazu böte. Ich spiele dieses Schauspiel – das Leben – ohne Überzeugung, aber mit anhaltender Leidenschaft. Es würde mich interessieren, ob es einen Menschen gibt, der das Gefühl hat, daß sein Leben ihm selbst entspricht, und der dieses ihm selbst entsprechende Leben ohne jede Irritation, jedes
Unbehagen
[14] , jede Distanziertheit lebt … Wo wäre da die Inspiration, der Zwang, sich mitzuteilen?
25 . Oktober 2006 Gestern abend gastronomischer Exzeß mit M. Wir hatten gerade noch einen Tisch bei Patzenhofer bekommen. Als der Kellner mit den beiden Portionen Eisbein erschien, jubelten unsere Tischnachbarn entzückt auf: Auf den Tellern wölbten sich die rosafarbenen Schweinehaxen und sahen mit den üppigen Beilagen wie ein niederländisches Stilleben aus dem 17 . Jahrhundert aus.
28 . Oktober 2006 Lesung in Hamburg; Iris Radischs Artikel in der
Zeit
. Ich finde nur unzureichende Worte … Die Qualen meines entgleisten Lebens; ich suche den Zusammenhang zwischen
Letzter Einkehr
und dem
Einsamen von Sodom
; während ein solcher Zusammenhang vielleicht (sogar sehr wahrscheinlich) gar nicht existiert …
Aus meinem Arbeitszimmer über die Dächer Berlins blickend erinnere ich mich der längst vergangenen Morgen, als ich noch schrieb und lebte … Graue Novembermorgen – wie eng ist auf einmal der Fensterspalt, der sich noch aufs Leben öffnet, wie wenig ist noch übrig … Mit gebrochenem Arm, zitternden Händen und Füßen; wenn ich in den Spiegel blicke, erkenne ich mich selbst nicht mehr …
31 . Oktober 2006 Ein Eintrag von 17 . Februar 1998 : «Gestern abend, beim Lesen in Koestlers Autobiographie, überkam mich wieder die Scham, daß ich mein Leben hier verbracht habe und nicht an einem würdigeren, besser zu mir passenden Ort in irgendeinem europäischen Land, ja, noch nicht einmal eine einzige europäische Sprache anständig spreche … Diese neue Welt hier, an der Grenze von Europa und Asien, unmittelbar nach den Jahrzehnten der russischen Verödung, ist wie ein brutales Erwachen in einer bis dahin zugefrorenen Wasserschüssel, wo sich nun sämtliche Mikroorganismen wiederbeleben und herumwimmelnd, einer vom Blut des anderen lebend, einer dem anderen nach dem Leben trachtend, einer dem anderen zu schaden suchend, schnell die halbe Stunde ihres Lebens ableben. Es ist beschämend, daß ich hier keine Aufgabe habe, daß mein Wort hier von niemand verstanden wird, daß all meine Erfahrungen, all
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