Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Buch hat wie Balsam auf meine Schriftstellerwunden gewirkt – auch wenn außer Frage steht, daß ich heute nicht mehr fähig wäre, ein solches Werk zustande zu bringen. Egal. Ich trage meine Schande ständig mit mir. Und bevor ich nicht für meinen Roman eine neue – wer wüßte noch wievielte – Fassung gefunden habe, wird das so bleiben.
15 . Februar 2002 Mir schnürt etwas die Kehle zu, das ich nicht beschreiben kann. Der quälende Mangel an Wahrhaftigkeit. Meine Art zu leben, gestehen wir es ein: als hätte ich aufgegeben. Wo sind die großen Schreibanfälle von
Kaddisch
, die einsamen Tage und Nächte, dieser an Besessenheit grenzende Seelenzustand? Wo ist die Konzentration – nicht mal die Konzentration, nur die Möglichkeit dazu? Sollte ich tatsächlich aufgegeben haben? Ist mir … ja, was ist mir eigentlich ausgegangen? Das Leben selbst ist das, was mir ausgeht. Wer sich auf den Tod vorbereitet, kämpft nicht mehr mit Problemen. Der schweigt. Das Problem: die Vorbereitung auf den Tod; die Leistung: dieser Prozeß, respektive die Darstellung dieses Prozesses. Bin ich auf den Tod vorbereitet? Insgeheim, so daß ich selbst nichts davon weiß? Ich habe geglaubt, noch zu kämpfen, geglaubt, die genaue Beschreibung dieses Kampfes sei noch wichtig. Der Roman läuft mir weg wie ein ängstliches Tier, das vergeblich gewartet und kein Futter von mir bekommen hat.
16 . Februar 2002 Berlin. Heute abend angekommen. Im Flugzeug der Junge; mit energischen Bewegungen, wie ein junger Büffel, nahm er seinen Platz ein; probierte sofort die in die Armlehne integrierte Telefonvorrichtung aus, zum Glück funktionierte sie nicht. Er kam irgendwoher aus Bulgarien, hatte stundenlang auf verschiedenen Flughäfen herumgelungert und gewartet. Ich wollte ihm mein Sandwich geben, aber er lehnte ab: Ich esse sowieso wenig, sagte er. Ich hielt ihn für 15 oder 16 , aber er war erst 13 . Bis zuletzt siezte ich ihn, dafür schien er dankbar zu sein. Ich half ihm in den Mantel, den er sich im Sitzen nicht anziehen konnte; als ich mich dann mit meinem eigenen Mantel abmühte, kam er mir aber nicht zu Hilfe. Vielleicht aus Schüchternheit.
Die Meineke-Straße erwartete mich wie mein Zuhause. In der gegenüberliegenden Kneipe aß ich zu Abend, Bier und Sauerbraten. Das starke Bier machte mich betrunken. Ich schlenderte ein ganzes Stück über den Kurfürstendamm. Die kühle Luft ernüchterte mich wieder. Zwei Nutten sprachen mich an, als ich zur Nachtzeit aus der Bank kam; in meiner Freude warf ich ihnen eine Kußhand zu. Zwischen Fasanen-und Meineke-Straße ließ der Leierkastenmann unverändert seine Drehorgel plärren, wie vor zwei Wochen. Eine ziemlich unförmige Frau in Anorak und Trainingshose drehte sich zu der Musik. Als ich zurückkehrte, war der Leierkastenmann schon wieder allein.
Meine Gedanken frösteln. Der Roman im Nirgendwo. Trotzdem bin ich eigentlich nicht verzweifelt. Warum nicht? Finde ich mich mit meinem Verfall ab? Wäre es so, dann ist das tatsächlich mein Ende. Aber etwas in mir sagt mir, daß es noch nicht soweit ist.
20 . Februar 2002 Der Bettler setzt sich jeden Morgen vor das Geschäft im Nebenhaus und verbringt dort den ganzen Tag. Gestern fiel Schneeregen, und vom fernen Mecklenburg her pfiff ein schneidender Wind durch die Straßen; der Bettler, ein dickliches Menschlein mittleren Alters – ich habe ihn mir nie näher angeschaut – harrte unerschütterlich auf seinem Platz aus. Er kommt morgens und geht am Abend, als ginge er zur Arbeit. Stumm sitzt er da. Er bettelt nicht. Neben ihm steht jedoch ein Schüsselchen, in das nie jemand etwas hineinwirft. Wovon lebt er wirklich? Ab und zu tauchen zwei gutgepflegte, große weiße Hunde auf, die irgendeinem Kunden gehören; solange der im Laden ist, schnüffeln die beiden trägen Köter freundlich um den Bettler herum; diesem macht das nichts, er streichelt liebevoll ihre dummen Köpfe, während die beiden Tiere seine Sachen beschnuppern. Ich glaube, die Ausrüstung des Bettlers entspricht immer der Witterung, bei dem Wind hatte er eine Art Anorak an. Ich muß ihn mir das nächste Mal genauer anschauen, all das klingt ziemlich herzlos. Doch solche ständigen Figuren gehören zum Leben einer Großstadt; solange Budapest eine Stadt war, gab es diese seltsamen Gestalten auch dort: der Straßenverkäufer, der Bettler, der sich am Oktogon von hinten an einen heranschlich und plötzlich laut «Gott segne Sie!» schrie; der Mann, der auf der
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