Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Ringstraße an einer einzigen, mehrsträngigen Leine fünf oder sechs Bulldoggen ausführte, aus deren Schnauzen die gleichen Pfeifen baumelten usw. Nur noch eine solche Figur erscheint heute Tag für Tag, der fast zahnlose, zerlumpte Mann aus unserem Nachbarhaus, der eine Karre vor sich herschiebt, deren Seitenflächen mit pornographischen Bildern tapeziert sind, mächtige Brüste, blutrote, saugende Münder, rosige Mösen. Aber er ist bereits aufgefordert worden, diese Bilder zu entfernen. Budapest ist neuerdings, unter den Händen unfrommer, gieriger junger Politiker, eine sittsame Stadt geworden; in dieser Stadt, wo Obdachlose auf der Straße erfrieren und die Korruption Häuser von Neureichen in Naturschutzgebieten emporschießen läßt, während die Menschen in der vergifteten Luft nach Atem ringen, nun, in diesem Budapest herrscht ein christlicher Geist; während die Nutten in den obszönsten englischen und deutschen Hardporno-Filmen Ungarisch sprechen, ist Reklame mit sexuellem Inhalt verboten und werden auf den Straßen keine fremdsprachigen Aufschriften geduldet. Aus dem «Pub» wird die Schenke, aus der «Modeboutique» das ebenso gräßliche Modewarengeschäft; ich fürchte mich, in diese graue Wüste zurückzukehren.
Der Drang zu schreiben quält mich, ohne daß ich vorankäme. Ich komme aber nur deshalb nicht weiter, weil ein gravierender Fehler meine Tagesordnung zerstört. Es geht um die Konzentration, um diese schlechte Organisation, die einfach darin besteht, daß ich eine Klobürste kaufen gehe, anstatt am Schreibtisch sitzen zu bleiben, oder daß ich am Schreibtisch sitze und in Gedanken darüber versinke, daß ich hier in Berlin keinen Drucker habe und wie bedauerlich das ist. Schlafen kann ich quasi überhaupt nicht, meine Tage spielen sich im Zeichen dumpfer Müdigkeit ab; und dabei tickt die Uhr, verstreicht die mir bemessene Lebenszeit.
Hat es uns weiser gemacht zu wissen, daß alles auf der Welt die ewige Wiederkehr des Gleichen ist?
Man stellt die Liebe im allgemeinen dar, wirft jedoch nie – die Pathologen vielleicht ausgenommen – ihre grundlegenden Fragen auf. Vermutlich hat in der ganzen europäischen Philosophie allein Platons Sokrates das Problem der Liebe als existentielle Frage behandelt; das heißt als Frage, die mit den Geheimnissen unseres Seins zusammenhängt und die sowenig zu beantworten ist, wie diese zu entschlüsseln sind.
20 . Februar 2002 Am Morgen bin ich bei Schneetreiben erwacht, und nun, am Abend, ist mit Blitz und Donnerkrachen ein Frühlingsgewitter über Berlin hereingebrochen.
Ich habe mir den Bettler angesehen. Ein junger Mann, und er trägt keinen Anorak, sondern eine Lederjoppe von guter Qualität. Mongoloides Gesicht, dünner brauner Schnauz-und Backenbart. Er könnte ein Problem mit seinen Beinen haben; sonst ein gutgenährter Mann, während ich ihn betrachtete, aß er gerade ein Sandwich, das sorgfältig in eine Papierserviette eingewickelt war. An einem feinen Ort muß auch ein Bettler auf sich halten, sonst findet er kein Mitleid bei den Leuten, und sie wenden sich eher angeekelt von ihm ab.
21 . Februar 2002 Ich habe noch nicht von dem schrecklichen Traum berichtet, den ich vor der Abreise in Budapest hatte. Ich war mit der Straßenbahn unterwegs. Zwei Leute im Wagen stritten sich; sie brüllten sich an, wie das heutzutage in Budapest schon Sitte ist. Dann stiegen sie aus und begannen sich zu prügeln. Ich weiß nicht, wie ich dorthin geriet, auf die Straße, als Zuschauer. Die Männer mögen um die fünfzig gewesen sein. Der eine war klein und trug einen roten Pullover, den anderen sah ich nicht. Diesem anderen gelang es, den mit dem roten Pullover niederzuwerfen, aber dann gewann doch dieser die Oberhand. Es gab dort irgendeine Planke, das Gesicht des am Boden Liegenden wurde hinter die Planke gedrückt, so daß ich nichts mehr sah, nur daß der im roten Pullover ihm wahrscheinlich auf der Brust kniete. Da kriegte er irgendwoher eine kurze Eisenkette in die Hand, und ich sah zu meinem größten Entsetzen, wie er die Kette ganz penibel und sorgfältig um den Hals des anderen wickelte und an beiden Enden zu ziehen begann, um ihn zu erwürgen. Flüchtig ging mir die Unverhältnismäßigkeit durch den Sinn: Ein heftiger, aber im Grunde harmloser Wortwechsel soll mit einem Mord enden! Was für eine krankhafte Gesinnung ist dazu nötig! Genau das löste offenbar den entsetzlichen Schrecken in mir aus, dieser krankhafte,
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