Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
unversöhnliche, grundlose Haß, der die Menschen in diesem Land beherrscht und leitet. – Heute scheint mir, daß sich in den Motiven dieser realistischen Bilder mehr verbirgt, ein Geheimnis, das ich in diesem Moment schwer entschlüsseln könnte. Der rote Pullover; daß ich das Gesicht des Opfers nicht sah, das des Mörders hingegen ja; der erbarmungslose, zugleich fachmännische Ausdruck auf dessen Gesicht, als er die Kette um den Hals des anderen schlingt und straff zieht – alles das deutet darauf hin, daß ich Blut und Gefahr wahrgenommen habe, und ich weiß nicht, ob die Verhältnisse in Ungarn dieses Gefühl der Gefahr in mir ausgelöst haben oder ob es nur Symbole einer anderen Angst waren, die wegen der Krankheit meiner Frau in mir steckt.
In dem kurzen, zwischen Kurfürstendamm und Lietzenburger Straße gelegenen Abschnitt der Meineke-Straße, in dem ich wohne, gibt es sieben Restaurants, ein Hotel und mehrere Pensionen. Diese Straße gleicht keiner einzigen Straße, in der ich bisher gelebt habe, aber sie gleicht in ungewöhnlicher Weise der Straße, in der ich schon immer gern gelebt hätte.
23 . Februar 2002 Als ich vorgestern abend in der Berliner Philharmonie die
Johannespassion
hörte – Simon Rattle und seine außergewöhnlichen Sänger –, mußte ich daran denken, daß ich
diesen Text
in Budapest, im Kreise jenes Publikums, das neuerdings für diese Stadt typisch ist, nicht hätte durchstehen können.
Der Roman sackt unter den Schlägen meines Unvermögens zusammen. Es besteht kaum noch Hoffnung auf seine Rettung.
Morgens halb sechs in der Meineke-Straße. Wenn ich richtig höre, gießt es draußen in Strömen. Magda schläft tief, drüben im Schlafzimmer. Ich muß noch von meinem anderen Traum berichten. Ich war irgendwie
daheim
. Als Besucher. Mit liebevollem Zynismus hänselte ich
sie,
wegen ihrer altmodischen Sitten, ihrer altmodischen Lebensformen, die sich
seitdem
überhaupt nicht geändert hatten. Ich nahm meinen Vater, der irgendwie ganz klein geworden war, auf den Arm; er lächelte, in seinen Augen leuchteten Stolz und Anerkennung. Interessanterweise ähnelte er Péter Weisz, meinem Vetter, trotzdem war es unbezweifelbar
er
. – Was gibt mir das Recht, so etwas zu träumen? Was soll diese Überlegenheit, mit der ich ihnen begegnete, mir anmaßte, diese ausgelieferten Wesen mit einem Gehabe, als stünde ich über ihnen, herbeizuzitieren? Dabei war es eigentlich ein wohltuender Traum, über ihm schwebte wie ein Regenbogen die Stimmung von Besänftigung und Versöhnung.
Ich fürchte, wenn ich noch lange warte und älter werde, werde ich keine Kraft mehr zum Sterben haben. In ein paar Jahren, sagen wir in vier, müßte es geregelt sein. Mit wem sollte ich mich darüber besprechen, damit ich nicht so viele Strapazen und vor allem nicht irgendeine Krankheit erleiden muß? Gott? Wo bist du, mein großer alter Freund?
1 . März 2002 Budapest. Die Seitenwände der Metro-Rolltreppen sind mit Pfeilkreuzler-grünen Plakaten vollgeklebt: «Weder rechts noch links, christlich und ungarisch», darunter: MIÉP . Die Wahlmarken und Wahlaufkleber der Pfeilkreuzler-Partei, die wir 1938 in meiner Kindheit sammelten: Unter einer Dampfwalze springen Juden wie Wanzen auseinander, mit Zylinder, Jackett usw. – Mein Leben erscheint mir wie ein komischer Traum, der mich auch nicht die Spur belustigt und dem ich immer weniger folgen kann.
8 . März 2002 Zwei Tage Warschau (anläßlich des Erscheinens des
Romans eines Schicksallosen
). Triste Stadt, nette Menschen. – Die Tage davor: Mit Magda im Krankenhaus, die letzte Infusion der Chemotherapie. Viel, viel Leid. Ich kam unvorstellbar erschöpft zu Hause an, wachte frühmorgens auf und las das Material durch. Ich war zufrieden. In Warschau, aber auch sonst, bei anderen Gelegenheiten, gibt man mir ständig zu verstehen, daß ich eigentlich der Autor des
Romans eines Schicksallosen
bin und man meine übrigen Arbeiten gewissermaßen für überflüssig hält. Soll ich dieses Urteil akzeptieren? Ich akzeptiere es nicht. Der
Roman eines Schicksallosen
ist sicher eine einzig dastehende, originelle Arbeit; zusammen mit den anderen aber rundet sie sich zu einer vollständigen Welt, meiner Welt. Und wenn nicht? Dann habe ich mich wenigstens gut unterhalten. Denn in Wahrheit ist alles überflüssig, das Schreiben wie das Leben. Beides verweist auf irgendein metaphysisches Surplus, einen Luxus, einen Kraftüberschuß, einen Reichtum, der
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