Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
sich gar nicht genug an seiner eigenen überflüssigen Herrlichkeit ergötzen kann.
12 . März 2002 Merkwürdige innere Unbehaustheit. Seit Tagen suche ich an einem bestimmten Punkt des Romans vergeblich nach einer Lösung. Langsam überkommt mich Angst. Nicht die Angst vor dem Scheitern; ich habe Angst vor dem Wesen, das hier vor dem Computer sitzt und zu schreiben versucht. Ich kenne es nicht. Ich diene einem fremden Wesen, das mich nicht schlafen läßt, sich über unnütze Dinge den Kopf zerbricht und dessen immer mehr schwindende geistige Potenz ich klar erkenne. Mit meinem Kopf fühle ich seine sklerotischen Schwindel, seine unsicheren Anstrengungen, in einem bröckelnden Gedächtnis ein gesuchtes Wort ausfindig zu machen, den logischen Faden, ein Problem, das ihn im Grunde nicht interessiert. Ich sterbe …
Ob es mir beim Sterben hilft, daß ich nie gelebt habe?
14 . März 2002 Heute in der U-Bahn der ältere Mann mit der Hamburger Mütze. Fleischiges, eigentlich nicht sehr sympathisches Gesicht. Als er sich auf den Sitz sinken ließ, sah man ihm an, daß ihn physischer Schmerz quälte. Er ließ sich äußerst vorsichtig nieder, den Hintern irgendwie eingezogen: eine Fistel am After, war meine Assoziation, offenbar von der Erinnerung an Onkel Árpád angeregt. Ein wenig ähnelte der Mann ihm auch, nicht so sehr die Gesichtszüge, eher der Typ. Dieses gewisse, mit den Jahren zum Ausdruck subtiler Gefühle untauglich gewordene Gesicht; die gnadenlose Projektion einer ausschließlich auf praktische, vermutlich technische Probleme konzentrierten Gedankenwelt. Die verdickte Haut, die harten Züge, besonders um den Mund, und der strichförmige Mund selbst, dem Küsse fremd sind: jämmerlich und ergreifend. Die Augen hielt er geschlossen, die Stirn, soviel die Schiffermütze davon sehen ließ, war von dicken Leidensfalten durchzogen. Der Mund schloß und öffnete sich bei jedem Atemzug ein wenig. Es gibt Gesichter, auf denen der Schmerz sich fast häuslich einrichtet, die er, von Charakter kündend, gewissermaßen adelt; dieses Gesicht hier hatte den Schmerz dagegen unvorbereitet empfangen, wie jemand, der nie mit dem menschlichen Schicksal gerechnet hat und den Tod so überrascht aufnehmen wird wie einen Verkehrsunfall. Es war schrecklich zu sehen, und trotzdem konnte ich meinen Blick nicht davon abwenden. Ein an Land gezerrter, japsender Wal; erwartet das auch mich?
In Warschau ging mein Fenster auf einen nächtlichen Hof, den ich im Dunkeln als furchterregend empfand. Am Morgen sah ich, daß es eigentlich eine kleine, mit einem Gittertor verschließbare Gasse war, eine Art Durchgang, den man von der Straße, der Marszalkowska, aus betreten konnte. Als in schmutzigen Farben die Sonne aufging, konnte man sehen, daß in der Ferne Bäume über die Brandmauern ragten, mir gegenüber ein tristes, flaches Gebäude, ein schauerlich vertrauter Klotz, die Sorte, die in jedem osteuropäischen Land zu finden ist – dreckig, stinkend, schlecht beleuchtet und als Schule oder provisorisches Sammelgefängnis genutzt. Menschen in Arbeitskleidung kamen und gingen heraus und hinein, Eimer und Werkzeuge in den Händen. Links ein rot gedeckter, hübscher kleiner Pavillon. In gelb leuchtender Schutzkleidung tauchte ein Straßenkehrer auf, stoppelbärtig, ungewaschen. Eine Weile trödelte er fröstelnd herum, dann kehrte er Abfallfitzelchen auf seine Schaufel und warf sie mir nichts, dir nichts durch ein offenes Fenster des Pavillons. Verschiedene Leute ließen ihre Hunde auf einen handtellergroßen grünen Rasen oder ein platzartiges Stück sandigen Erdboden scheißen. Pfützen, große grünlichbraune Pfützen gluckerten in ordnungswidrigen Löchern. Autos starteten, die Leute setzten sich hinein, als zögen sie sich in einen Schutzraum zurück, einen Schutzraum ihrer Freiheit und aggressiven Triebe, und hofften, daß die Reise ewig dauert; daß sie niemals wieder hinaus müßten in ein graues Büro, einen alles unter sich niedertrampelnden Wochenalltag. Ein ziemlich gut gekleidetes Mädchen ließ ihren zottigen schwarzen Hund von der Leine, das Tier tollte wie verrückt herum, beschnüffelte alles, schlabberte aus den Pfützen, verrichtete mit erhobenem Bein sein Geschäft, bevor er nach einigem sinnlosen Hin-und-her-Gerenne wieder an die Leine genommen und nach Hause geführt wurde. Ich stellte mir vor, wie dieses schmutzige Tier dann in die Wohnung gelassen wird und auf die Möbel klettert; wahrscheinlich
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