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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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hatte man ihm auch einen Kosenamen gegeben.
     
    22 . März 2002  Gestern abend hat M. lange geweint. Daran bin ich schuld. Mein totales Unvermögen, totaler Bankrott. Ich mußte an dem Tag erkennen, daß der Roman auch in der neuen Version keine Lebensnähe hat. Die unmittelbare Zukunft aussichtslos – für mich ist inzwischen jede Zukunft unmittelbare Zukunft. Seltsame körperliche Symptome. Libidomangel. Völliges physisches und geistiges Elend. Meine Vitalität auf einen Tiefpunkt gesunken. Ich ging auf den Balkon und schätzte nüchtern den Weg bis zum Asphalt ab. Versuchsweise kletterte ich auf die erste Sprosse des Balkongeländers. Es schauderte mich. Ich spürte ganz klar, ich kann und werde nicht springen. Ich muß mir etwas anderes überlegen. Zum Drogenmarkt habe ich keinerlei Beziehung. Heute müßte ich nach Berlin reisen. Es ist fünf Uhr morgens, die Maschine geht am Nachmittag. Von allen Seiten bin ich eingezwängt in ein Leben, das ich immer weniger liebe. Es gibt keinen Fluchtweg. Die Basis von allem, was mein Leben bildet, ist eine große Lüge. Als ich auf das Balkongitter stieg, kam mir für einen Moment in den Sinn, daß dieser Balkon und diese komischen kalten Gitterstäbe mir gehören, mein Eigentum sind. Der Gedanke war derart absurd, daß ich erst recht Lust zu dem Sprung gehabt hätte. Warum tue ich es nicht? Physische Feigheit; zum Selbstmord ist wahrscheinlich eine Art Besessenheit nötig, und die fehlt mir. Der Zerstörungstrieb, jenes Maß an Selbsthaß, das uns die entsprechende Kraft verleiht, als vernichteten wir einen verhaßten Feind. In mir wirken Schlafmittel, von denen mir schwindelt, ohne daß sie mich betäuben würden. Ich sehe einen schrecklichen Abstieg vor mir, einen schmalen Pfad, den ich bis zum Ende gehen muß. Tolstois Flucht und seine tödliche Grippe auf der Bahnstation. Hätte ich ein sicheres Gift in der Tasche, würde ich es ganz gewiß tun. Mir kommt die arme Frau in den Sinn – Kati –, die etwas einnahm, in den Wald ging und sich ins trockene Laub legte, man fand sie erst Tage später. Genauso hat sich der arme Kázmér umgebracht, der Arzt, der mich vorm Militärdienst rettete. Er ist in den Wald gegangen … Vielleicht haben sich Waldtiere von ihm ernährt, bevor man ihn fand. Alles ist mir fremd, fremd sind die Werke, die ich hervorgebracht habe und die überhaupt nichts mit mir zu tun haben …
     
    24 . März 2002  Sonntag. Talent – lese ich irgendwo – ist antidemokratisch.
    Spiró sagt, das Schreiben sei eine Droge. Er erzählt, wie er sich eines Nachts, hundemüde von einer Reise zurückgekehrt, sofort an den Computer setzte, etwas schrieb und auf der Stelle wieder erfrischt war, gleichzeitig habe sich seine Weltordnung irgendwie wiederhergestellt.
    Seit Freitagabend wieder in Berlin. Meine Straße, die Meineke-Straße. F. holte mich vom Flughafen ab, brachte mich in die Stadt und half mir mit meinem schweren Koffer die Treppe hinauf; ich protestierte energisch, war ihm jedoch insgeheim dankbar. Im Briefkasten Rechnungen, Briefe, so als lebte ich und sei ein Einwohner Berlins. Das Leben ist ein Traum. Manchmal ein schlechter. Diesmal ein guter, oder sagen wir besser, ein angenehmer. – Am Morgen ging ich zum Einkaufen hinunter, der Bettler saß an seinem gewohnten Platz, diesmal aber spiegelte sich physisches Leid in seinem Gesicht. Ein kalter Wind blies, ab und zu peitschte Regen übers Straßenpflaster. Ich kaufte einen Bordeaux-Wein. Am Abend zuvor im italienischen Restaurant. Der Italiener überreichte mir die Fotos, die er in der Silvesternacht von Magda und mir gemacht hatte. Handschlag. Grazie, Signori! – Am Morgen rief Földényi an, wir trafen uns in einem Café am Savignyplatz. Tranken kühlen französischen Weißwein. Die Situation in Ungarn. Auf dem Flug am Abend vorher der junge Mann, mit deutschem Paß, aber Ungar; er lebt jedoch meist im Ausland. Ein Semester hat er an der Universität in Budapest studiert. Er erzählte, daß die studentische Jugend dort zur rechtsextremen Partei neige. Ekel verzerrte sein Gesicht. Überall auf der Welt seien die Studenten links, wenn nicht linksextremistisch, eine konformistische Jugend mit Pfeilkreuzler-Gesinnung habe er nur in Budapest getroffen. F. und ich dachten über die Gründe nach, suchten eine Erklärung. Vergeblich. Es gibt nicht für alles eine Erklärung; manchmal muß man sich mit den fatalen Tatsachen abfinden; Ungarn ist eine Fatalität, die sich weder erklären läßt noch

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