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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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kranke Gedanken. An einem Sommerabend, wie er ihn beschreibt, denken junge Männer im allgemeinen an die Hoffnungslosigkeit der Liebe und brechen in ihrem Gefühlsreichtum, diesem großen, überflüssigen Vermögen, meinetwegen sogar in Tränen aus. Oder haben Visionen vom Leben, wenn auch nur von ihrem eigenen, die auf einmal vor ihnen aufleuchten und in die sie staunend, mit geblendeten Augen hineinstarren, als blickten sie in die Sonne. Er dagegen denkt über die soziale Ungerechtigkeit nach, was seit der Französischen Revolution eine Krankheit ist. Der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit hat die größten sozialen Ungerechtigkeiten in der Welt geschaffen, die Beschäftigung mit dem Schicksal von anderen – die Vernachlässigung der eigenen Existenz – hat zu den schrecklichsten Massenmorden geführt.
    Regnerisches Wetter, kühle Luft hat die gestrige Hitze abgelöst. Ich habe jetzt entdeckt, daß am Ende der Meineke-Straße ein elegantes Bordell auf seine Besucher wartet. Über der Tür einer Nachtbar blinken diskret rote Herzen. Ich sehe den Bettler nicht mehr. Er ist verschwunden. Eine fatale Erschöpfung hat sich meiner bemächtigt. Heute schlief ich fast den ganzen Tag. Sah mir im Fernsehen Tennis an, was von einem bedenklichen Zustand zeugt. Ich schaffe es nicht mehr, dem ununterbrochen Laufschritt fordernden Betriebstempo des mit dem Markennamen Kertész versehenen Schriftstellerunternehmens zu folgen. Am liebsten würde ich den Laden schließen. Aber damit würde ich mich selber schließen.
     
    Ein von einem chinesischen «Komponisten-Team» komponiertes Klavierkonzert; nun … zu mehreren ist es wahrscheinlich schwieriger als allein, todsicher aber gelingt es dabei, die Genialität zu vertreiben.
     
    15 . Juni 2002  Ich hätte Lust, den Roman mit meinem Lieblingssatz aus
Molloy
einzuleiten. «Dann ging ich ins Haus zurück und schrieb: Mitternacht. Regen schlägt gegen die Scheiben. Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.»
    Wieder in Budapest. Am letzten Tag auf dem Kurfürstendamm begriff ich, daß Berlin für mich das Leben und Budapest das Exil ist. Die lange Platanenreihe in der Mitte des großen Boulevards. Es ist schwer, die Anziehungskraft einer Stadt zu beschreiben. Zweifellos wäre ich aber in London oder Paris genauso glücklich. Das Wesentliche ist die Freiheit, die
Be
freiung.
    Hermann Beil im Berliner Ensemble, wie er Thomas-Bernhard-Texte liest. Lockiges weißes Haar, jugendliches Gesicht, runde Brille, das merkwürdige, smokingartige Gewand, mit schwarzem Schlips – plötzlich kam ich darauf, er erinnert an Schubert. Und zu alledem der penetrante, stellenweise böse Sarkasmus der Bernhard-Texte.
    Den Bettler werde ich wohl nie mehr sehen.
     
    21 . Juni 2002  Essentielles Leben. Eineinhalb Jahre, von Januar letzten Jahres bis Juni dieses Jahres, finden auf hundertdreißig Seiten Platz. Und es ist mehr als wahrscheinlich, daß einiges davon noch gestrichen werden muß.
     
    23 . Juni 2002  Vorgestern Wien, Besuch bei Ligeti. Nur mühsam kam er die Treppe herunter. Wir unterhielten uns bis morgens halb vier. Der Balkon, auf dem wir schon so oft saßen; nach der brütenden Hitze heftiges Donnern und Blitzen, dann lindernde Windstöße; wir mußten ins Zimmer hineingehen. Er ließ gelten, daß Schönbergs Zweites Streichquartett nicht ganz zu verwerfen sei. Auf dem schönen Gesicht Spuren des physischen Leidens. Am Dienstag wird er operiert. Ich habe Angst.
     
    27 . Juni 2002  Ich kann im geistigen Chaos des Medgyessy-Skandals mein Verhältnis zu Ungarn in drei Fragen formulieren. Warum sollte ich die (Post-)Kommunisten lieben? Warum sollte ich die (Post-)Faschisten lieben? Warum sollte ich Ungarn lieben? – Hier in Berlin gibt es dagegen den Möllemann-und den Walser-Skandal. Interessant, daß der neue Antisemitismus bei mir keinerlei Emotion auslöst. Vielleicht habe ich mit ihm gerechnet. Vielleicht betreffen mich noch keine Sanktionen (z.B. Deklarationen der Art, daß meine Person nicht mehr erwünscht sei, meine Bücher nicht mehr veröffentlicht werden usw.: Wiewohl ich sicher bin, das mich auch das nicht erschüttern würde, es würde nur mein Leben verkomplizieren): Tatsache ist, daß mich der Antisemitismus nur dann aufreizt, wenn er mich in einer persönlichen Beziehung trifft – und dann auch nicht der Antisemitismus selbst, sondern die Unverschämtheit, die Gemeinheit der Person. Das Ganze ist mir so fern, wie eine Art Deviation, der ich mich gefühlsmäßig

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