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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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gestern morgen an etwas Publizistisches gemacht, das ich bald in Düsseldorf vortragen muß – man zahlt dort ziemlich gut. Vorgestern die Preisverleihung an Elfriede Jelinek, eine Menge Bekannte, man behandelt mich, als gehörte ich zum geistigen Leben Berlins, und manchmal erfaßt mich die leichte Stimmung eines abenteuerlichen Lebens. Es stimmt nicht ganz, aber es tut gut. Hätte sich mir die Gelegenheit in jüngeren Jahren geboten, sie hätte mich möglicherweise korrumpiert oder verkommen lassen. Aber vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall bin ich nicht für das enge Budapester Leben geboren. Gestern mit Tišma im Kempinski. Jedesmal, wenn er mit dem Zug vom Meer her auf Novi Sad zufährt, spürt er die pannonische Ödnis, die ihn dort erwartet. Die Farbe Pannoniens ist grau, schreibt Babits. Nicht nur die Farbe, auch die Seele.
    Der Schmähbrief, den ich hier von einem deutschen Juden auf meinen Jerusalem-Artikel bekam. Eine wütende Beschimpfung, deren Essenz Angst und Selbsthaß sind. Nun, und die daraus resultierende Geschmacklosigkeit. Warum will ein europäischer Jude Israel gegenüber um jeden Preis «gerecht» sein – wobei es sich bei der von ihm beteuerten Gerechtigkeit um nichts anderes als eben diese Angst und diesen Selbsthaß handelt? Und warum besteht er darauf, dieser Angst und diesem Selbsthaß ein öffentliches Podium zu sichern? Aus Angst und Selbsthaß.
     
    14 . Mai 2002  Manchmal treten mir einzelne Bilder vor Augen.
Sunt lacrimae rerum
. Ein Bild aus der Kindheit. Die Baross-Straße. Ich komme von irgendwo weither und gehe irgendwohin, einen langen Weg. Irgendwo unterwegs habe ich etwas verloren. Mich selbst? Wer ist dieser ältere Herr, von dem es heißt, «er sieht gut aus»?
     
    18 . Mai 2002  Wieder in Budapest. Wie es scheint, ist dieses Doppelleben entschieden. Ich glaube, heimischer bewege ich mich in Berlin, und feststeht, daß es mir besser gefällt. Auf dem Ludwigkirchplatz, wo ich neulich mit M. auf der Terrasse des Hamlet saß, ist mir auf einmal bewußt geworden, was dort mit mir geschieht. Ganz abgesehen von dieser Ruhe, den mächtigen Bäumen, den weißen Häusern an diesem Platz, von der Sicherheit und Gelassenheit, diesen äußeren Zeichen geistig-materiellen Wohlstands – sagte ich zu meiner Frau –, habe ich noch niemals in
Frieden
gelebt. In Ungarn war immer Krieg – entweder im wörtlichen Sinne oder aber im Hinblick auf die Kriegsverhältnisse unter der Besatzung, und seit der Wende herrschen dort ebenfalls ununterbrochen Kriegszustände, auf den Straßen knistert der Haß, alles ist provisorisch, fragwürdig, instabil, man muß stets gewärtig sein, daß einem irgendwie der Boden unter den Füßen weggezogen wird, die Lebensumstände sind unerträglich, die Mentalität, das Selbstmitleid, das Warten auf «Erlösung», das Unvermögen, die Lügen, immer wieder Lügen, haben eine unerträgliche Atmosphäre geschaffen.
    Der Roman stockt. Aber ich habe mit der Düsseldorfer Rede begonnen.
    Das Ergebnis der Wahlen in Holland. Der plötzlich erwachte Judenhaß. Meine Prophezeiung vor Jahrzehnten, daß die dritte Generation das Nazitum zurückbringen wird. Wie oft habe ich gesagt, daß es ausreicht, mit dem Daumen nach unten zu zeigen, und die allgemeine Tendenz im Westen wird sich mit erschreckender Geschwindigkeit um 180 Grad wenden. Auch dort hassen sie alles und haben genug davon, daß sie fünfzig Jahre lang beteuern mußten, wie beklagenswert Auschwitz sei; jetzt können sie endlich für die Endlösung einstehen und dann erneut plündern.
     
    19 . Mai 2002  Einmal muß ich endlich die Erinnerung an die Schmach in der Baross-Straße aufschreiben; ich hatte neulich schon damit begonnen, es dann aber wieder sein lassen. Im Alter von vierzehn Jahren bekam ich so heftige Erektionen, daß ich gezwungen war, sofort zu masturbieren, weil ich sonst geradezu schmerzhafte Erektionskrämpfe hätte aushalten müssen. Eines Nachmittags – es war Winter, zu Beginn des Jahres – saß ich am Tisch und büffelte für die Schule, vermutlich Mathematik. Meine Hose wäre fast geplatzt. Meine Stiefmutter lag auf der sogenannten «Récamière» und hielt Mittagsschlaf. Über dem Tisch lag eine Decke, deren Fransen tief herunterhingen und mich wohltätig bedeckten. Ich knöpfte mir die Hose auf und holte im Schutz der Tischdecke meinen Schwanz hervor. Ich spürte, daß ich im nächsten Augenblick kommen würde, nahm also ein Taschentuch aus der Tasche und drückte es gegen den

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