Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
halsstarrigen Zug, der bei der kleineren als Mangel erscheint und meist auch korrigiert und eliminiert wird – während große Kunst gerade durch diese absurde Eigenheit und das sture Festhalten daran groß wird. (Bei den heutigen Zuständen von großer Kunst zu sprechen, ist geradezu schandbar; und doch glaube ich nicht, daß man sie vollkommen aufgegeben hat, auch wenn der vorherrschende Menschentyp eben jene menschlichen Züge verloren hat, die ihn zu Inanspruchnahme und Erschaffung großer Kunst bewegen würden.)
10 . August 2002 Die europäischen Juden begehen meines Erachtens einen selbstmörderischen Fehler, wenn sie in das Geheul von europäischen Intellektuellen und Chefbeamten einstimmen, die sie gestern noch ausrotten wollten und jetzt unter dem Vorwand der Kritik an Israel eine neue Sprache für den alten Antisemitismus finden; wieso sollten sie ihre Absichten denn inzwischen geändert haben?
Ich möchte diese scheinheiligen, sich selbst aufgebenden Juden, aus deren Mündern Israel schmähende Sätze quellen wie Erbrochenes, immer gern fragen: «Wieso schmerzt dich das, du Trottel? Du lebst hier in der Schweiz oder in Frankreich oder in Dänemark oder wo auch immer, wieso schmerzen dich nicht die Morde der ETA oder die Schandtaten der irischen Separatisten oder der erschreckende Machtzuwachs des europäischen Neonazismus? Du kannst dich nicht maskieren, Dummkopf, hast du bereits vergessen, daß man auf Verlangen der Schweiz ein J in deinen Paß stempelte, daß die Franzosen dich in Lager steckten und an die Nazimörder auslieferten, daß ganz Europa die letzten Zuckungen der jüdischen Deportierten in den Gaskammer von Auschwitz gern gesehen hat? Am Ende komme ich noch zu dem Schluß, daß der europäische Jude tatsächlich jene schädliche Kreatur ist, die es am meisten haßt, wenn sie in jüdischer Hand eine Selbstverteidigungswaffe erblickt, und die in der eigenen Ausrottung die einzige Lösung für ihr mit wirrem und schmutzigem Bewußtsein gelebtes Leben sieht. Sie wird daran so lange arbeiten, bis ihr Ziel erreicht ist, und sich über den Vorgang selbst, während man sie in ein neues Auschwitz schleppt, sie ausplündert, schlägt und ihr eigenes Grab schaufeln läßt usw. – über all das wieder genauso wundern wie ehedem.
Wir sind Zeugen eines Prozesses, bei dem sich Israel und das Judentum der Diaspora vollkommen voneinander trennen. Möglich, daß sie erst bei der großen Judenvernichtung wieder zusammentreffen.
Im übrigen bin ich wieder in Berlin, vorgestern abend angekommen. Heute ging es nach einem bizarren, dösend im Sessel verbrachten Nachmittag auf einmal mit der Arbeit los. Die Judit-Szene. Die merkwürdige, versteckte Beziehung zu
Doktor Faustus,
dessen – trotz der im Titel erklärten Absicht – merkwürdige, versteckte Beziehung zu
Faust
. Heute paktiert alles mit dem Teufel.
Beim Abendspaziergang erblickte ich plötzlich den Bettler: Er saß auf dem Kurfürstendamm in einem Hauseingang, an diesem warmen Abend ohne Jacke, völlig unscheinbar in der auf-und abwogenden Masse. Er sollte sich sein Renommee nicht so zerstören; ein Mensch wie er kann sich nur in einer Nebenstraße Aufmerksamkeit verschaffen, auf dem Kurfürstendamm ist er so verloren wie eine Stecknadel, die man aus dem Hemd zieht und durchs offene Fenster auf die Straße wirft. Heute muß auch ein Bettler die Geschäftstricks kennen, wenn er sich eine gutgehende Bettelei einrichten will.
12 . August 2002 Gestern abend bis in die Nacht ein Wagner-Marathon auf einem der hiesigen Fernsehkanäle; zur Vorbereitung auf die Stuttgarter Wagner-Premieren konnte man ein über vierstündiges, sehr niveauvolles Programm mit Gesprächen, Musikeinspielungen und Bühnenbildern hören und sehen. Zum Schluß der Sendung wurde die Festung Breendonk erwähnt, wo man Freilichtaufführungen von Wagner-Opern veranstalten wird. Der Ort war mir verdächtig; ich schaute nach; es war das Gestapo-Quartier, in dem Jean Améry gefoltert wurde und das Sebald in dem Roman
Austerlitz
beschreibt. Kommentar? Keinen. Wie der Budapester sagt:
So geht’s.
15 . August 2002 Vorgestern (am 13 .) hier in Berlin den ersten Teil des Romans beendet. Heute noch der letzte Schliff, ein paar Worte, ein paar Satzzeichen verbessert. Maßlose Müdigkeit, wie ich sie wohl so noch nie verspürte. Aus Budapest kleine Quälereien am Telefon, Frustrationen. Damit ich mich nicht zu sehr freue. Seit meiner Kindheit kämpfe ich darum, als
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