Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
nicht annähern kann, oder eine Lehre, die ich nicht kennenlernen will, weil sie mich langweilt und ich keine Zeit dafür habe.
5 . Juli 2002 Berlin. Ich will versuchen, die vergangenen Tage zusammenzufassen. Ich weiß nicht genau, seit wann ich wieder hier bin, noch nicht lange; ein paar Tage war auch M. mit hier. Der Roman ist triumphal bis zum Ende des echten Abschiedsbriefes, den ich vorgestern nacht abschloß, vorangekommen – und nun folgt wieder eine jener Zwangspausen, nach deren Ablauf es fraglich ist, ob ich dort weitermachen kann, wo ich aufgehört habe; bisher ging das immer, aber jetzt bin ich alt. Der Roman hat Größe und ist ungewöhnlich. Gestern den ganzen Tag – von morgens 11 bis abends 8 – mit I. an der Übersetzung des Drehbuchs gearbeitet; als ich in die Meineke-Straße zurückkam, schlief ich vor Müdigkeit in dem Sessel ein, in den ich mich bei der Heimkehr geschmissen hatte. Ich glaube, ich müßte ausspannen. Mein physischer Zustand ist katastrophal. Ich kann kaum laufen, nichts heben, die Libido schläft allmählich ein. Montag mit Magda in Frankfurt, um Unseld zu besuchen; es war jammervoll. Der große Alte, der letzte Büffel. Sowohl Magda wie mir kamen die Tränen. – Der nach unten gerichtete Daumen Europas, was die Juden betrifft. Die antisemitische Diktion der neuen Mörder: «Kritik an Israel ist kein Antisemitismus.»
15 . Juli 2002 [Budapest] Fünf Tage in Spanien. Sinnlos, anstrengend, aber schön. Das atlantische Grün San Sebastiáns, schon vom Flugzeug aus; das üppige Grün nach der gelben, ausgedörrten Landschaft von Madrid. Die spanischen Gesichter, die baskischen Aufschriften, Brutalität, allseits Unhöflichkeit, all das aber hat, falls das möglich ist, etwas Anziehendes. Die Anerkennung von Adam Michnik; ich konnte nicht mit ihm sprechen – er kann außer Polnisch nur Französisch – und habe das sehr bedauert. Meine Lesung aus dem Churchill-Essay, ich glaube, er interessierte niemanden, auch mich nicht. Die Stadt, die Eleganz der Architektur, der unvergleichliche Stolz der Eckhäuser. Der atlantische Ozean, den ich hier wohl zum ersten Mal sah. – Dann der Tag in Madrid. In den Nebenstraßen spüre ich plötzlich den Geruch von Tod und billiger Erotik. Kirchen und Restaurants. Hinter den heruntergelassenen, verblichenen Fensterläden hin und wieder die Gesichter alter Frauen. Von den sonnenerhitzten Steinen strahlt hier eine merkwürdige Grausamkeit aus. Und doch ist das Ganze verführerisch, eine rotglühende Leidenschaft, eine tödliche Umarmung. Hier kann man zugrunde gehen und dabei den huschenden Gang der Ratten vernehmen. – Während der ganzen Reise lese ich die Essays von Jean Améry; besonders «Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein» beschäftigt mich – der Titel faßt meine eigene
condition humaine
zusammen. «Es kann ja sein, aber es läßt sich angesichts der gegebenen Umstände keinesfalls damit rechnen, daß in den Todesfabriken der Nazis der letzte Akt des großen historischen Dramas der Judenverfolgung gespielt wurde. Ich glaube, die Dramaturgie des Antisemitismus besteht weiter. Eine neuerliche Massenvernichtung von Juden kann als Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden. Was würde wohl geschehen, wenn die heute durch Ost und West mit Waffenlieferungen unterstützten arabischen Länder in einem Krieg gegen das kleine Israel einen totalen Sieg errängen?» schreibt er. Die Terrasse des Cafés in San Sebastián, wo ich am Mobiltelefon aus Berlin erfahre, daß mich ein linker jüdischer Publizist in der
Zeit
wegen meines dort publizierten
Jerusalem, Jerusalem-
Artikels angegriffen hat. «Erst wenn ich, ohne Jude zu sein im Sinne positiver Bestimmbarkeit, Jude bin in der Erkenntnis und Anerkenntnis des Welturteils über die Juden und schließlich mitwirke im geschichtlichen Berufungsprozeß, darf ich das Wort Freiheit aussprechen», so Améry. «Ich verliere jeden Tag von neuem das Weltvertrauen. Der Jude ohne positive Bestimmbarkeit, der Katastrophenjude, wie wir ihn getrost nennen wollen, muß sich einrichten ohne Weltvertrauen.» «Die Solidarität angesichts der Bedrohung ist alles, was mich mit meinen jüdischen Zeitgenossen (…) verbindet.» – Der linke Jude, dieser kleine flüchtende Wurm, beißt mich in seiner Wut immer von neuem ins Bein, um mich daran zu erinnern, wohin ich gehöre. Er wünscht sich als vertrauensvoller, ja, konformistischer Intellektueller in der Welt zu etablieren, und siehe da!, ich
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