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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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störe ihn, indem ich ihn an seine Situation erinnere; das wird er mir nie verzeihen.
     
    16 . Juli 2002  Eine höllische Nacht. Die stickige Luft staute sich in den Straßen und über den Dächern dieser Wahnsinnsstadt. Die Nächte bringen keine Linderung mehr. Eine Ratte hat mich ins Bein gebissen; die Verletzung geht nicht tief, aber die heraussickernde Wundflüssigkeit läßt die auf der Lauer liegende Horde von Ratten quiekend Witterung aufnehmen. Es sind ihrer viele. Bisher hatten sie vergeblich nach einer zum Beißen geeigneten Körperstelle gesucht. – Ansonsten ist mein Leben schlecht. Es ist wie ein schlecht geschneidertes Kleidungsstück, das hier beutelt und dort spannt; an einigen Stellen schneidet es ein, anderswo drückt es, und wie ein Nessoshemd versuche ich es vergeblich abzuwerfen.
     
    17 . Juli 2002  Jeder hat recht. Aber es gibt große und erhebende und kleine, entmutigende, sozusagen provinzielle Wahrheiten. Wer die letzteren vertritt, muß sich den großen Stil versagen. Doch auch, wenn wir uns den großen Stil versagen, brauchen wir ihn, um wirksam sein zu können. Und wenn wir den großen Stil adaptieren, verändert sich auf einmal auch die Wahrheit – sie wird groß. Voilà, aus der Sprache gibt es keinen Ausweg; die
Realität
, die ist freilich immer anders.
     
    Es kommt ein Lebensabschnitt, wo man die Lust an den irdischen Dingen: den Frauen, der Liebe, der Politik, selbst dem Leben, verliert und nur noch interessiert ist, allein zu sein. Dann sollte man alle und alles hinter sich lassen, hinauf ins Engadin gehen, arbeiten und sterben. Wie gern täte ich das! Meine Mittelmäßigkeit hält mich immer vom letzten Schritt zurück. Ich bin feige geboren, so wie andere rachitisch.
     
    18 . Juli 2002  Ich sollte nicht die bedrückenden Vormittage vergessen, die ich damit verbracht habe, Bridge zu spielen. Ohne Partner, allein, Jahre, Jahrzehnte lang. Ich kam in die Wohnung von Bözsike, meiner Großtante, wo ich damals in einem Betonbau arbeitete, deckte das Blatt auf und spielte bis zum Nachmittag Bridge, ohne mein Manuskript auch nur anzurühren. Genauso hatte ich es schon vorher zu Hause, in der Török-Straße, gemacht. Heute weiß ich, daß ich schwere Depressionen hatte und die Symptome so zu überbrücken suchte. Danach habe ich viele viele Jahre keine Karten mehr angerührt; und jetzt beobachte ich, wie ich wieder Stunden, wertvolle Stunden, im Bridgedusel verbringe.
     
    31 . Juli 2002  Seit Mai drangsaliert die Hitze uns ohne Unterlaß, mit der Hartnäckigkeit eines verwirrten Geistes.
     
    1 . August 2002  Jetzt sollte ich von der Griechenlandreise berichten. Die freundliche Einladung von András Schiff. Die Yacht, mit der wir acht Tage im Ionischen, dann im Ägäischen Meer segelten. Die verträumten Inseln, fast hörte man die Sirenen des Odysseus; die versprengten korinthischen Säulenkapitelle an der sonnenverbrannten Küste; auf der Heimfahrt die Säulenhalle des Poseidontempels, die auf einer Felsenspitze aus dem stürmischen, schaumbedeckten Meer aufragt. Abendessen am Fuß der Akropolis. Zwei Abende Lesung aus
Doktor Faustus
, diesem wahrhaft großen Roman (op. 111 und Ines’ Pistole in der Straßenbahn). Von neuem eine große Offenbarung: das Buch von Jean Améry, diesmal in einer guten ungarischen Übersetzung. Eigentlich gibt es nur zwei, drei Autoren, die authentische und erhellende Texte über Auschwitz geschrieben haben. Alle anderen lügen oder weichen ängstlich vor der Wahrheit aus; vielleicht merken sie nicht einmal, daß sie ängstlich davor ausweichen, wiewohl allein diese Angst, die Angst vor der Wahrheit, ihnen die Feder führt und allein Feigheit und Selbstmitleid sie inspiriert.
     
    4 . August 2002  Schwere Tage. M. in Spanien. Mühsamer Kampf mit dem Romantext (der Abschnitt nach dem Abschiedsbrief). Erschöpfung. Interessanterweise inspiriert mich die Einsamkeit jetzt nicht wie sonst, sie demoralisiert mich eher. Die Tage zerbröckeln. Telefongespräch mit N. Über den auf eine Katastrophe zusteuernden Niedergang hier; daß die Qualität versiegt wäre, glaube ich indes nicht. Sie zieht sich nur in die Stille zurück – aber wann wäre das nicht so gewesen? Die Periode des Analphabetismus hat der Literatur gutgetan, und sollte uns – wie zu erwarten – eine neue bevorstehen, wird sie wieder inspirierende Wirkung haben.
     
    5 . August 2002  In jeder großen Kunst gibt es einen unbeugsamen, unbestechlichen, man könnte sagen,

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