Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
ist, werden die anderen Juden an die Reihe kommen. Vorderhand Verhätschelung, Wohlleben. Üppige Abendessen, schwere Weine. Besuch in der Staatskanzlei, im Kanzleramt. Megalomane Bauweise gepaart mit Schönheit der Innenräume. Mittagessen in Gesellschaft eines unwürdigen Bismarck-Nachfolgers. Die prachtvolle Stadt lag im dunstigen Sonnenschein zu unseren Füßen. Dann nach Frankfurt gerast, genauer geflogen. Bei der Lesung (Márai-Essay) großes Publikum. Die Leute saßen bei der Hitze sogar noch auf dem Boden. Ich weiß nicht, ob ich fähig bin, dieses Interesse zu befriedigen. Ein ernst wirkender Junge reicht mir mit begeistertem Gesicht zwei Márai-Bücher zum Signieren. Ich erkläre ihm, daß ich nicht die Bücher eines anderen Schriftstellers signieren kann. Er versteht, wirkt aber enttäuscht. Ich kaufe ihm das einzige Buch, das von mir noch am Büchertisch zu haben ist – ausgerechnet das
Galeerentagebuch
. Reiche es ihm entschuldigend und versichere ihm, daß er es im Erwachsenenalter vielleicht besser verstehen werde. Meiner Meinung nach würde er es auch jetzt verstehen – völlig unabhängig davon, ob er es versteht. Bücher muß man nicht verstehen, es genügt die Inspiration, die sie uns geben, oft schon allein dadurch, daß wir sie in Händen halten und lesen. Nicht das Buch zählt, sondern sein Leser. Falls dieses Kind das
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lesen und sich über den Sinn der Worte den Kopf zerbrechen sollte, wird es nicht das Buch verstehen, sondern irgendwohin entfliegen, von wo es dann nie mehr in den Lebensalltag zurückkehren will. – Tags darauf Besuch bei dem sterbenden Unseld. Der mächtige Mann liegt im Bett, und drei Mädchen lauern auf seine Wünsche. Streicheln ihn, wispern ihm liebevolle Worte ins Ohr. Magda küßt ihn, es scheint, als würde er bei unseren Namen aufhorchen und uns erkennen. M. schluchzt. Auch ich würge nur mit Mühe Tränen hinunter. Ich wußte nicht, daß mir dieser Mann inzwischen so ans Herz gewachsen war. Eine Eiche ist gestürzt, eine einsame, mächtige Eiche, am äußersten Rand des Waldes, auf einer geheimen Anhöhe, einer Warte, die nun erschreckend leer bleiben und als ein verwaister Platz auch die Landschaft verändern wird. Dann Abendessen in einer intimen Ecke der Villenwohnung, bei Kerzenlicht. Ein erhebendes und trauriges Erlebnis. Nachdem uns das Taxi ins Hotel zurückgebracht hatte, unterhielten wir uns noch bis drei Uhr nachts, es war unmöglich, zu Bett zu gehen. Inzwischen die scheußliche W.-Angelegenheit. Der Schmutz sprudelt aus der Gesellschaft wie aus einer Latrine. Das gesellschaftliche Leben hat sich in eine riesige Latrine verwandelt, zu der die Leute nur noch zur Entleerung kommen. Dann wieder zu Hause in der Meineke-Straße. Magda reist heute nach Budapest zurück. Ich möchte die vor mir liegende Woche für die Arbeit am Roman nutzen. Meine schlechte Kondition beunruhigt mich ein wenig, die Wirbelsäule schmerzt, das Bein schmerzt, ich kann nicht schlafen und bin ständig von Müdigkeit geplagt. Gestern saß ich mit Magda noch spätabends auf der Terrasse des Hamlet beim Spargelessen. Ich war erfüllt von den starken und herrlichen Bildern des Lebens. Alles, was hier, in diesem großen Land, geschieht, ist so
wirklich
, wie ich es von der Provinz dort, diesem östlichen Regionalstaat, nicht gewohnt bin.
7 . Juni 2002 Während ich abends im italienischen Restaurant Fischsuppe und Spaghetti mit Muscheln aß, las ich mit Genuß in dem Brecht-Buch, das ich vom Suhrkamp Verlag bekommen hatte – den Genuß bereitete mir die Situation, die fremde, freundliche Stadt, das Halbdunkel des Restaurants, die mit gekonnten Griffen geöffneten Flaschen, das am Tisch eingeschenkte Bier, die beflissenen Bewegungen der italienischen Kellner, das Wissen, daß ich in Europa, weit weit weg von Ungarn und dem ungarischen Elend bin; das Wissen, daß mich der Antisemitismus zwar überall auf der Welt töten, ich bis dahin aber doch wenigstens auf menschliche Weise leben kann und nicht im Vorraum zur Schlachtbank, was die ungarischen Juden als Schicksal bezeichnen. Was das Buch betrifft, so war es alles andere als ein Genuß. Brecht ist, mit Verlaub gesagt, ein banal denkender und mittelmäßiger Schriftsteller. In seiner Jugendzeit, an einem schönen, melancholischen Sommerabend, denkt er daran, wie viele Kriege jetzt in der großen weiten Welt wüten, wie viele Menschen hungern, wie viele Kranke es gibt, die gerade in dieser Stunde sterben usw. Wahrhaft
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