Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Schwanz. In diesem Moment klingelte es. Meine Stiefmutter schreckte auf und rief, ich solle die Tür öffnen. Blitzschnell stopfte ich das Taschentuch in die Tasche zurück, und nach meinem Gefühl gelang es mir auch, meinen Schwanz in die Hose zurückzustopfen. Zeit, auch den Schlitz wieder zuzuknöpfen, blieb nicht mehr. Als ich aufsprang und loslief, bemerkte ich den verblüfften Blick meiner Stiefmutter. Im Flur sah ich dann, daß mein erregter, steinharter Pimmel aus dem Hosenschlitz starrte, so war ich zur Tür gegangen und hatte meine Stiefmutter damit wohl zu diesem gewissen Blick veranlaßt, dessen mehrdeutigen Charakter ich mit meinem Kinderkopf damals natürlich noch nicht erfassen konnte, ich registrierte nichts als meine brennende Scham. Erst Jahrzehnte später habe ich begriffen, was für einen erregenden Anblick ich für eine etwa 28 jährige Frau geboten haben mochte. Ich halte es für wahrscheinlich, daß meine Stiefmutter meinem Vater von dem Ereignis in angemessener Detailliertheit berichtet hat. Aber es passierte nichts, wir haben nie über den Vorfall gesprochen. Hingegen rückte mein Vater in jenem Frühjahr zum Arbeitsdienst ein, und meine Stiefmutter bat mich, mein Bett zu ihr ins Zimmer zu stellen, weil sie nicht gern allein schlief. Eines Abends merkte ich, daß sie in einem völlig durchsichtigen Nachthemd aus dem Badezimmer kam. Ich konnte alles sehen, vor allem das dunkle Dreieck ihres Schamhaars. Was mag sie erwartet haben? Was mich betrifft, empfand ich nichts als Entsetzen. Zum Glück versuchte sie nicht, mir näher zu kommen, sie löschte das Licht, und es geschah nichts. Aber ich bin sicher, hätte ich nur eine einzige Bewegung gemacht, hätte sie mich zu sich ins Bett gerufen. Das Schicksal hat mir ein schmachvolles Erlebnis erspart, eine lebenslängliche, immer von neuem aufbrechende böse kleine Qual.
26 . Mai 2002 Es gibt so etwas wie stickige Bücher, durchdrungen vom Körpergeruch, der säuerlichen Verklemmung, der alle Fenster verschließenden Sprache des Autors; diese Bücher lassen dem Leser keine Luft zum Atmen, sie sind wie das Netz einer Riesenspinne, das sich dem Menschen übers Gesicht legt und ihn erstickt.
Ihr Judentum ist ihnen im Halse steckengeblieben, sie können es weder runterschlucken noch ausspeien. Im Moment der Lebensgefahr werden sie es dann mit dem gleichen Verrat, der gleichen Bestechung und Gemeinheit wie 1944 versuchen, und auf ebenso ohnmächtige und bewußtlose Weise.
27 . Mai 2002 Alles wird hier in Ungarn von der Unheil kündenden Politik überschattet. Absage meiner Düsseldorfer Rede. Eigentlich hat sich alles als Unsinn erwiesen, was ich unter dem Stichwort «Essay» zusammengeschrieben hatte; pathetischer Blödsinn, den ich wieder hätte löschen müssen. Einzig die Sätze negativen Gehalts hatten Bestand. – Hier in Ungarn spüre ich genau jene Stimmung, die für das Jahr 1947 charakteristisch war. Noch stellt eine zivile Regierung den Ministerpräsidenten, doch in Wirklichkeit wird im Hintergrund bereits alles von anderen, den Anhängern der Diktatur gelenkt, und die zivile Regierung wird es schließlich als Erlösung betrachten, wenn man sie durch einen Putsch entfernt.
28 . Mai 2002 Die Menschen hier sind in einem Zustand wie Haustiere, die eine Woche kein Fressen gekriegt haben. Jetzt warten sie nur noch auf die Ankunft des Schweins Napoleon. – Für Faschismus, Nazismus, Kommunismus usw. gibt es keine historischen Gründe, sondern allein den, daß die Menschen diese Systeme und ihre Oberbefehlsführer wollen. Das ist alles, und es genügt vollauf als Erklärung. Hinterher tut man allerdings gern so, als seien Erklärungen nötig.
6 . Juni 2002 Woher weiß ich, daß das geschriebene Wort noch Sinn hat? Seit sieben Tagen wieder in Deutschland. Zunächst Berlin, der Orden
Pour le mérite
, reizende alte Herren und Damen. Aus dem Abgrund der Seele blubbernder Antisemitismus als musikalische Untermalung. Deutscher Antisemitismus. Was ist Antisemitismus? Das in Mord ausartende Gaudi schmutziger Seelen. Interessant, daß niemand von Nach-Auschwitz-Antisemitismus spricht, einem Antisemitismus, der Auschwitz will. Ich fürchte, die Mordlust Europas wird Israel hinwegfegen. Ich fürchte mich vor den Bildern des Mordens, die ich mir dann ansehen muß. Ich fürchte mich vor dem quälenden Mangel an Ernst, vor dem fremden Leid, das wie eine tödliche Krankheit in mich hineinkriechen wird. Sobald Israel vernichtet
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