Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
hat? – Komplizierte Frage, einfache Antwort: Nein, offenbar muß man es nicht verwerfen, ja, es wäre sogar leichtfertig, es zu verwerfen.
22 . September 2002 Vorgestern Magdas große Party ( 60 .). Glanz und Glück, nette, freundliche, liebevolle Gesichter. Vierzig Leute. Meine Rede. Die Freude M.s. – Auf dem Video, das von der Party gemacht wurde, kann man die Parkinsonerkrankung deutlich an meiner Haltung wahrnehmen.
3 . Oktober 2002 Enorm viel geschehen; es geschieht neuerdings enorm viel bei mir, anders als in meinem vorherigen Leben, wo überhaupt nichts geschah. Ich weiß nicht, was vorteilhafter ist. Man droht mir abermals mit dem Nobelpreis. Eine obskure Figur, ein Literaturkritiker, der sich in der Rolle des Haus-Clowns und Haus-Juden behauptet (eine «Medienperson»), hat im deutschen Fernsehen seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, daß nicht ich, sondern ein «starker» und «frischer» amerikanischer Schriftsteller, nämlich Updike, den Preis bekommen werde. Interessant, daß ich mein ganzes Leben mit dieser Art von Juden in Konflikt bin; diese Leute haben mich verfolgt, mich bis aufs Blut gequält. Der Geheimdienst-Jude ist immer wütend auf mich, weil er glaubt, er habe den Preis des Überlebens gezahlt – indem er Geheimpolizist, Verfolger seiner Schicksalsgenossen wurde –, während es auch eine andere Art des Überlebens gab, die
Reinheit
, und deshalb vergibt er den Reinen nie. – Im übrigen bin ich wieder in Berlin, jetzt für zehn Monate, als einer der
Fellows
am Wissenschaftskolleg zu Berlin. – Vergangenen Mittwoch, am Abend vor meiner Abreise, im Budapester Kammertheater zwei Stunden aus
Liquidation
gelesen. Ein besondere Erfahrung, gelassen und, wie man so schön sagt, positiv.
4 . Oktober 2002 Das Alter, dieser unmögliche Zustand des Körpers, nachdem wir uns lange Zeit erst an die Jugend, danach ans Mannesalter gewöhnt hatten; eine Veränderung, die sich so organisch vollzieht, daß man sie eigentlich gar nicht wahrnimmt. Auf einmal melden sich dann die Alterssymptome, du konstatierst quasi von einer auf die andere Minute, daß du nur noch krumm gehst, die Knie schmerzen, daß du nicht schlafen kannst, deine Konzentrationsfähigkeit nachläßt, deine Erektion unbefriedigend ist; du kannst das Ganze nicht recht fassen, vor allem deshalb nicht, weil es unakzeptabel ist und dich dennoch beherrscht; es ist zu deinem Zustand geworden, während du die Sache noch als übereilt empfindest, denn was die Bereitschaft zum Leben betrifft, ginge es vielleicht noch ein paar Jahre. Aber gerade darum geht es: Die Jahre werden dir entzogen, das Urteil lautet, daß es genug für dich war und es besser ist, keine Berufung einzulegen, denn damit vergeudest du nur die verbleibende Zeit; und was solltest du auch mit dem dir fremd gewordenen Körper, der unerfüllbaren Sehnsucht anfangen?
12 . Oktober 2002 Den Nobelpreis irgendwie interpretieren. Ich denke, die Entscheidung der Schwedischen Akademie beweist großen Mut. Du hast ihn bekommen, weil … die Begründung ist unwesentlich. Ein gebildeter, zweifellos fähiger, zurückgezogen lebender, schutz-und heimatloser Schriftsteller hat ihn bekommen, der keinerlei «offizielle» Unterstützung erfahren hat, keinerlei Lobby besitzt, nicht Englisch spricht und die Welt sehr düster sieht. Aber er sieht sie. Die Akademie hat für fragile Werte gestimmt, und die einhellige Zuneigung, mit der ihre Entscheidung aufgenommen wurde, ist verblüffend. – Ich selbst habe noch überhaupt nichts begriffen. Seit zwei Tagen gebe ich nur noch Interviews; ich benehme mich, als ob ich das schon immer getan hätte. Doch irgendwie stehe ich dem Ganzen fern und weit außerhalb, ein echtes «Ich – ein anderer»-Erlebnis. Große Müdigkeit. Magdas tröstliche Gegenwart. Mehr kann ich, zu meiner größten Überraschung, nicht dazu sagen.
26 . Oktober 2002 Heute morgen ist Unseld gestorben. In einem gewissen Sinn bin ich untröstlich. Ich weiß nicht genau, warum. Wahr ist, daß ich ihn mochte, wahr ist, daß alles anders wäre, auch der Preis, wenn er – in der ganzen Herrlichkeit seiner Kraft, wie ein Großfürst – noch gegenwärtig sein könnte; und noch etwas anderes bedaure ich, was mehr ist: das Verschwinden der letzten großen Figur einer großen Generation, das Verschwinden eines Gründers, eines großen Mannes. – Ich rief Ulla an, sie sagte, Siegfried habe zuletzt zu mir gesprochen; er habe nur abgerissene Worte gemurmelt und
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