Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
gesagt, «ich komme» – sie denke, damit habe er Stockholm gemeint –, sonst habe sie ihn nur noch schwer atmen gehört und gedacht, jetzt werde die Krankheit ihn sicher wegraffen. Und so geschah es.
Ansonsten brodelt der Nobelpreis-Wahnsinn um mich herum. Tiefe Müdigkeit, ich könnte sagen, innerlich und äußerlich. Magda findet nur schwer ihren Platz. In zwei Wochen muß ich die Rede abliefern, gute zwanzig, vierundzwanzig Seiten. Viele Leute sind glücklich, sehen in dem Preis für mich das Aufflackern einer Hoffnung. Die ungarischen Nazis – unter denen sich viele Juden finden – schmähen mich. Zwei in der Öffentlichkeit bekannte Juden, ein deutsch-polnischer und der in Österreich lebende ehemalige Stalinist Pál Lendvai, ließen verlauten, ich hätte den Nobelpreis nicht bekommen sollen. – Aber es lohnt nicht, mehr Worte über das Ganze zu verlieren. Mir fehlt das Schreiben so, daß ich fast krank bin.
27 . Oktober 2002 Sonntag. Magda ist am Morgen abgereist. Ein wirrer Vormittag; ich war unfähig, bestimmte persönlich gehaltene Gratulationen aufrichtig zu beantworten. Besorgte mir die Sonntagsausgabe der
Frankfurter
, mit den schönen Nekrologen (Unseld). Selbst ich mit meinen schlechten Deutschkenntnissen habe keinen allzu großen Blödsinn gesagt.
Ein paar rasche Notizen für die Stockholmer Rede. Gestern abend rief ich Ligeti an, er war sofort verstimmt, weil ich «kokett» über den Preis spräche. Aber Auschwitz und Nobelpreis sind nun mal ziemlich schwer in Relation zu bringen. Schließlich war es nicht so abgemacht, daß ich sechs Jahrzehnte später einen Literatur-Nobelpreis erhalte. Eine Absurdität, die allein mit Ironie zu überbrücken ist. Das bedeutet nicht, daß ich mich nicht freue – trotzdem, ich glaube, ich habe noch nicht begriffen, was mir geschehen ist. Magda geht es ebenso.
Der erste herbstliche Tag, um fünf Uhr ist es schon fast völlig dunkel. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer in der Wallot-Straße, von Bäumen umgeben, wie auf dem Grund eines Aquariums. Der Himmel ist gläsern, die Bäume zischeln auf, ein heftiger Wind weht. Kein Brief, kein Telefon, seit vierzehn Tagen der erste ruhige Nachmittag.
13 . November 2002 Mitternacht. Diese Zeilen schreibe ich in Berlin.
Veni, creator spiritus!
Unkreatives Leben ist gottlos. Habe ich das gewollt? Eigentlich ja, aber nicht so. Hast du deshalb geschrieben? Nein, mitnichten. Freust du dich? Im Grunde wohl, aber mit Vorbehalten. Was ist dann mit dir los? Daß ich nicht schreibe; mein Leben ist inhaltslos, ich bin mir selbst fremd.
17 . November 2002 Die Groteske, die mein Leben begleitet. Wie mitten im triumphalen Schmettern des Horns das Grunzen der Tuba ertönt – ein furzender Laut, jemand bläst ein Lied aus der Unterwelt in die Grundmelodie, indes mit vom Blasen geschwollenen Gesichtern die Band erscheint und sich im Narrenkleid, mit rot-und grünkarierten Strümpfen, dem bunten Zug anschließt. – Kindheitsfreunde: Ihre Lust, den für sie auf verbotenem Terrain gelegenen Obstgarten zu besudeln. Hurtig lassen sie die Hosen runter, erleichtern sich und laufen dann weg. Die ewige Groteske, Bosch-Bilder. Interessant, aber es setzt mir mehr zu als nötig.
3 . Dezember 2002 Noch nie habe ich in meinem Leben soviel Niedertracht erfahren, wie seit der Verkündung meines Nobelpreises. Als wäre der Preis nur dazu da, das Fenster zu den bodenlosen Tiefen der Gemeinheit aufzustoßen. Judenhetze von Nazis; Judenhetze von Juden; das Gewürm, das aus der Vergangenheit kriecht und die Luft mit seinem Leichengift verpestet. Die Maschinerie; diese zu meiner Zerrüttung geschaffene Maschinerie; in Form von Presse und Öffentlichkeit hetzt sie mich an die äußerste Grenze meiner Kraft. Jeder dreht ein bißchen am Räderwerk, das mich langsam erwürgt, zerquetscht, verschlingt.
15 . Dezember 2002 Berlin. Am Abend aus Stockholm zurückgekehrt. Es ist vollbracht. Ich habe die Rede gehalten, ich habe den Preis entgegengenommen. Jetzt ist es nachts, drei Uhr fünfzehn. Und schon erscheint mir das Ganze wie ein ferner Traum. Ich kann es kaum erwarten, zum grauen Alltag zurückzukehren.
22 . Dezember 2002 Budapest, schon den vierten Tag. Am 18 . und 19 . Massenveranstaltungen, ohnmächtig saß ich in der Ecke, in die man mich gequetscht hatte, und signierte Büchermassen, während die Leute mit mir sprachen, mir ihren Atem ins Gesicht bliesen und mich nicht zu Abend essen ließen, nicht einmal
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