Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
Vom Netzwerk:
lächerlich, wie es wahrscheinlich auch die Ehe ist, seine Infantilität war lächerlich, so lächerlich wie die Infantilität überhaupt, die einen in die Ehe treibt, denn der heutige Mensch ist überhaupt infantil, und die Vereinigung von zwei Infantilitäten ist der sichere Bankrott, die sicherste, kindischste und lächerlichste Variante des Bankrotts; es war, wie gesagt, lächerlich, aber trotzdem verständlich.
     
    19 . September 2002  Der Gastwirt Szúnyoghy (so neuerdings – vorher nur Szúnyogi), Szúnyoghy also hat eine Tafel vor die Tür gestellt: «Zutritt für Juden und Hunde verboten». Grün (vorher Gerendás, jetzt wieder nur Grün), der in Szúnyogis kleiner Gastwirtschaft zwanzig Jahre lang Stammgast war, trat trotzdem ein. [3]
    «Hassen Sie mich wirklich, Herr Szúnyoghy?» fragte er.
    «Aber wie sollte ich Sie denn hassen, mein lieber Herr Gerendás», protestierte der Gastwirt, «Sie sind doch seit zwanzig Jahren einer meiner hochgeschätzten Stammgäste!»
    «Und es macht Ihnen nichts, daß ich Jude bin?»
    «Ach so, wenn Sie Jude sind, dann muß ich Sie natürlich hassen.»
    «
Müssen
Sie das oder hassen Sie mich tatsächlich?»
    «Tja, wenn ich zwischen beidem einen Unterschied machen könnte!»
     
    In der letzten Woche hat man mich zu einem in Ungarn jährlich wiederkehrenden öffentlichen Ereignis eingeladen, zu dem ich bis jetzt noch nie eingeladen worden bin; der im übrigen ganz sympathische Oberbürgermeister teilte mir im Vertrauen mit, man wolle mich zum Ehrenbürger von Budapest ernennen; der sogenannte Schriftstellerbverband, dessen Mitglied ich nicht bin und von dessen Seite ich bislang immer nur Antipathie zu spüren bekommen habe, meint auf einmal, ich müsse ihn in irgendeiner europäischen Sache (ich habe während des Telefonats nicht verstanden, um was für eine Veranstaltung es sich handelt) repräsentieren – was tut sich da? Wodurch hat sich mein sogenannter «Status» verändert? Und wie soll ich mit dieser Veränderung umgehen? Soll ich die Essays zurückziehen, die ich über meine Heimatlosigkeit geschrieben habe und darüber, wie wenig ich diese Stadt liebe? Soll ich meine Anschauungen ändern oder wegen der auf einmal so freundlich gewordenen Behandlung protestieren? Denn ich empfinde mich doch inzwischen gar nicht mehr als hierhergehörig, bin eher Berliner als Budapester … (Im Grunde ein lächerliches Problem; das Leben ist absurd, und deshalb muß man es mit der entsprechenden Zurückhaltung und Flexibilität behandeln, als etwas ohne große Bedeutung, vornehmlich, solange es sich von seiner vorteilhaften Seite zeigt.)
     
    In der Nacht den dritten Satz von Mahlers 4 . Symphonie gehört, dann den dritten und vierten Satz der sechsten. Wieder von der Erkenntnis durchdrungen, daß diese Musik meine Welt ist, daß ich sie über alles liebe. Als diese Musik geboren wurde, gab es Gott sei Dank noch keine Demokratie, die zweifellos politische Vorteile und kulturelle Nachteile hat. Zu Mahlers Zeiten war noch – zum letzten Mal – eine Größe möglich, die in der Demokratie nicht mehr möglich ist. – Beim letzten Satz der Sechsten mußte ich feststellen, daß sich mein Gefühl der Todesproblematik gegenüber verändert hat. Es ist nun nicht mehr dramatisch oder tragisch, vielmehr elegisch, von einem leichten Sträuben getönt. Dieses Sträuben ist nicht Angst: Ich empfinde weiterhin keine Angst – es ist eher, als würde man an eine unangenehme, aber unvermeidliche Aufgabe erinnert, obwohl noch ein wenig Zeit wäre, oder als müsse man in ein fremdes Badezimmer blicken, in dem man jemand bei unschicklichem Tun ertappt.
    Gestern erfuhr ich, daß mein Parkinson eine rasche «Entwicklung» nimmt, bald auf die linke Seite übergreifen und dann immer qualvoller werden wird. Ich muß mich mit allem beeilen, was mir geistig wichtig ist.
    Mit der Ehe – natürlich – wieder ausgesöhnt, denn ich habe doch eine wunderbare Frau.
    Bleibt die Frage: Wenn man in seiner Verletztheit etwas ungerecht formuliert hat, das Formulierte aber dennoch von allgemeiner Wahrheit ist, sollte man es dann verwerfen – nur weil man es «subjektiv» nicht in einer Atmosphäre von Gerechtigkeit, sondern, im Gegenteil, in einer solchen von Ungerechtigkeit formuliert hat –, oder sollte man es bewahren, als wahren Gedanken, den man zwar in einer Situation gedacht hat, als man gerade ungerecht war, aber bei dem man, zwar nicht im persönlichen, aber im allgemeinen Sinn etwas Wahres gedacht

Weitere Kostenlose Bücher