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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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Ungarisch geschrieben ist und in diesem Land kein Publikum findet und weil die Übersetzungen die Kraft der Formulierungen kaum wiedergeben; doch selbst wenn sie sie wiedergäben, läsen die Leute so etwas nicht in Übersetzungen. Irgendwie empfinde ich es als angemessen, möglichst bald zu sterben.
     
    30 . August 2002  Judits Tat erwächst aus Charaktergröße und Mut, nicht aus Feigheit und Fluchtverlangen, wie ich bisher annahm. – Die Liquidation von Auschwitz. Die «Ermächtigung durch Erleben». – Es wird schwierig.
     
    3 . September 2002  Gestern am frühen Morgen aus Budapest abgereist. Ich komme nach Berlin, so wie ich einst ins Lukácsbad ging. Grünes Wasser, leichter Dunst, Zuflucht. Dr. Harsányi, den ich zum Abendessen eingeladen hatte, stellte die stereotype Frage, wie ich in Berlin, unter Deutschen leben könne. Ich entgegnete, aber wie könnte ich unter Ungarn leben? Er räumte ein, die Antwort sei gut. Allerdings kamen wir nicht bis zum Ende der Gedankenkette: Wie ich überhaupt leben kann. – Obwohl ich heute, ich gestehe es, gern lebe. Verbirgt sich in diesem Geständnis nicht eine Gefahr? Darf man so etwas gestehen?
     
    4 . September 2002  In Berlin ist der Herbst wie ein blondes Mädchen am Morgen. Ich kann ihn nicht genießen, überflüssiger, aber dringender Aufgaben wegen. Ich muß gestehen, ich liebe diese Stadt. Gestern ein wenig im Tiergarten, die Gartenlokale, der See, wo man sich ein Boot ausleihen kann. Ich dachte an M., Ende September bringe ich sie hierher. Irgendwann ist auch Budapest einmal eine solche Stadt gewesen, daran erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit. Wohin ist das Budapester Leben entschwunden? Es meidet die Stadt wie ein Landstreicher das Gefängnis. – Gestern am Telefon überraschend Unselds alte begeisterte Stimme. «Der Kreis muß sich schließen», sagte er. «Nein», protestierte ich, «der Kreis soll noch offen bleiben …» [2] Wir wechselten ein paar Worte in dieser Art, es war schrecklich, weil er nicht richtig bei Bewußtsein ist, die Worte aber trotzdem in der alten Art artikuliert: die Stimme stets erhoben, als sei das, was er sagt, immer von besonderer Bedeutung – eine eigentümliche Mischung aus von der Kanzel ertönendem Bibelwort und vollkommen vertraulicher Intimität. – Vorgestern hier in Berlin das Gespräch mit Dr. Harsányi darüber, wie leicht das Blatt sich wendet, wie schnell man in den Verlust des Bewußtseins, in den Tod umkippen kann.
     
    9 . September 2002  Früher Morgen. Am Abend Rückkehr aus Lausanne. Eine absurde Konferenz. Worüber? Wozu? Für wen? Ich betrachte diesen Konferenz-Aspekt meiner Existenz, der inzwischen infolge des Markennamens Kertész mit nicht unerheblichen Einnahmen einhergeht, mit der größten Verwunderung. So war ich (dieses Jahr) in San Sebastián, in Berlin (Toleranz-Konferenz [was für eine schöne Assonanz!]) und ich weiß nicht mehr wie vielen anderen schönen Orten (Stockholm z.B.), überall fanden Konferenzen statt, die nirgends einen Sinn hatten, aber überall tauchten die Konferenz-Schakale auf, die von diesen weltweit organisierten Konferenzen leben. Nie so eine Welt! Aber wahrscheinlich hängt das mit dieser Demokratie zusammen: Der Konsens wird überall wiederholt, und das hält man für kulturelle Betätigung. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als skeptisch oder zynisch zu werden. Die meisten neigen zu letzterem. Das Leben aber entrückt immer weiter; wir suchen schon mit dem Fernrohr danach.
     
    15 . September 2002  Wie denke ich über den Zufall. Ist alles Zufall oder überhaupt nichts? Wie denke ich über den Zufall, wenn mich alles begünstigt, und wie, wenn alles gegen mich ist? – All das berührt die Frage von Sinn oder Sinnlosigkeit des Lebens, über die sich nicht streiten läßt. Der Zufall unserer Geburt. Nicht nur die Empfängnis, überhaupt der Anlaß; ob man zum Beispiel Beischlaf hat oder nicht. Wenn man so will, hängt alles davon ab. Wovon? Davon, wie man es sieht. Der Glauben scheint unumgänglich zu sein. G.s lächelndes Gesicht. «Das kann nicht sein», sagte er. Hinter der Brille schienen ihm Tränen in den Augen zu stehen. Jedenfalls sah ich es so. Wir feierten seinen sechzigsten Geburtstag. Sein Vertrauen hat mich tief gerührt.
    Wieder in Frankfurt, bei dem armen kranken Unseld. Er hatte Mühe, das Dessert abzuwarten, ließ sich dann in sein Zimmer hinaufführen. Kurz darauf ließ er mich rufen. Er lag auf dem Bett, neben ihm Ulla, seine Frau.

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