Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
erfährt. Lebensgenießer, man könnte sagen Hedonist, strebt aber nach einer asketischen Lebensweise. Ein einsamer Charakter und will immerfort heiraten. Er turnt, verrichtet Gartenarbeit im Interesse der Gesundheit, schläft im Winter bei offenem Fenster, geht zu Fuß, schwimmt, aber bekommt eine tödliche Krankheit und erleidet einen frühen Tod. – Ein herzergreifendes Schicksal, zum Trost denkst du an Goethe. Wiewohl auch Goethe seinen Teil an Unglück abgekriegt hat, nur daß er sein Leid «besser zu nutzen» verstand. Egal. Die Figur Kafkas wird uns ewig quälen, vielleicht noch mehr als seine Schriften, und ich weiß nicht, ob nicht eigentlich das sein wahres Vermächtnis ist.
31 . Dezember 2002 Madeira. Wie und wo auch immer, wir tragen unser Leben überall mit hin. Das Boot aufs Ende zusteuern. Die Bedeutung aller Dinge am Tod messen. – Gestern die Nachricht, daß die Schuljugend in Hódmezővásárhely den vom ungarischen Staat verteilten
Roman eines Schicksallosen
demonstrativ zerreißt und auf der Straße herumstreut. Judenliteratur. Mein Kommentar: Der Staat sollte meine Bücher nicht verschenken; man sollte dem Publikum vertrauen, wer will, wird sie sich schon kaufen. – Sich endgültig von Ungarn losreißen: eine Frage der Psychohygiene.
2003
3 . Januar 2003 Silvester auf Madeira. Unser Balkon, das Abendessen; unten zieht die weiße Flotte auf; während wir den Sekt öffnen, ertönen die Schiffshörner, und die Nacht wird erleuchtet. Bananenstauden und Palmen, vom Meer scheinen die grünen und roten Kugeln direkt auf uns zuzurasen. Dann Stille. Glückliches neues Jahr. Aber wie kommen wir hierher? Und trotzdem sind wir an unserem Platz.
Sebalds großes und außergewöhnliches Buch
Luftkrieg und Literatur
. «Das Ideal des Wahren, das in seiner, über weite Strecken zumindest, gänzlich unprätentiösen Sachlichkeit beschlossen ist, erweist sich angesichts der totalen Zerstörung als der einzige legitime Grund für die Fortsetzung der literarischen Arbeit. Umgekehrt ist die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus den Trümmern einer vernichteten Welt ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihrer Berechtigung entzieht.»
4 . Januar 2003 Madeira. Das Funkeln des Sonnenlichts auf dem endlosen Wasser. Ein bestimmter Luxus ist unmoralisch, könnte man sagen – glaubte ich einer solchen Formulierung und wäre sie richtig. Der Geist des Reid’s Palace; natürlich englischer Geist. Mitte des 19 . Jahrhunderts von einem Luxushotel auf einem nackten Felsen über dem Meer zu träumen. Und sich den Traum dann zu erfüllen, innerhalb von drei Jahren wird der unwahrscheinliche Zauberpalast erbaut.
Meine letzte Kafka-Notiz könnte auf eine leichte Entfremdung hindeuten. Als blickte der auf der vornehmen Tearoom-Terrasse des Reid’s Palace vespernde Kertész mit einem gewissen Abstand auf die früheren Gefilde, die Menschen und Götzen von früher. «Warum warst du nicht geschickter, mein Söhnchen?» Aber das stimmt nicht. Ich halte meine Situation für nicht weniger absurd als bisher. Obgleich mich meine Anpassungsfähigkeit unleugbar wundert. Ein wenig Lebenskunst aber zählt ja noch nicht zu den größten Fehlern. Ich liebe das schöne Leben, dem sich dunkle Gedanken zugesellen. Ich bin quälend müde, und der langsame Abbau meines Organismus treibt mich auf den Tod zu, so wie die Fischerboote auf dem funkelnden Wasser vor mir langsam ins Nichts treiben.
17 . Januar 2003 Wozu dieses Logbuch? Habe ich es nicht begonnen, um die letzten Häfen einzutragen, an letzten Stationen die letzten Gläser zu leeren, dem endgültigen Hafen zuzusteuern? Ich sitze in Budapest, drei Uhr nachts, heute abend sind wir aus Berlin angekommen, morgen abend kehre ich dorthin zurück. Ich wünschte, ich könnte den Gesichtskreis verengen. Ich wünschte, ich könnte dahin zurückkehren, wo es, wie ich fürchte, keinen Platz mehr für mich gibt. In Wahrheit hat sich mein Leben doch verändert. Ich schleppe einen neuen Menschen mit mir herum, mit dem ich nichts zu tun habe; ihm zuliebe muß ich trotzdem so tun, als wäre ich er. Sein Lächeln erstirbt in meinem Gesicht, seine Worte rufen Ekel in mir hervor, sein vor Mitgefühl triefender Blick zieht mich zu Boden. Ich trage sein Gesicht, an dem mich jeder erkennt. Vor allem aber muß ich die Schmähungen, den Haß und den Schmutz ertragen, die sich über ihn ergießen, die verzweifelten Wutausbrüche des menschlichen Abschaums
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