Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Tränenverschmiertes Gesicht. Der «Alte» streckte mir die schlaffe kranke Hand entgegen. Ich ergriff sie, streichelte, vielmehr massierte sie. Nach einer Weile entzog er sie mir und streckte sie mir dann wieder hin, ich massierte abermals. «Ich bin froh», flüsterte er. Man schämt sich immer. Es beschämt uns, wenn unsere Situation besser ist als die von anderen, und es beschämt uns auch, wenn sie schlechter ist. Es gibt keinen Ausweg. Wir schämen uns permanent. – Vor allem aber hat es M. getroffen. Was erwartet uns? Als er ihre Hand nahm, verspürte sie plötzlich eine seltsame Kraft. Kämpfen, solange es geht, solange wir es aushalten. Und es dann – nach Möglichkeit – gemeinsam beenden.
17 . September 2002 [Budapest] Ich weiß nicht. Letztlich bin ich mit der Ehe in eine mir fremde Materie geraten, in die ich immer weiter einsinke wie in einen teerartigen Brei. Der Enkel. Die Probleme. Die absurden Beziehungen. Heimweh nach meinem Sils Maria. Was war das für mich? Wahrscheinlich die Török-Straße. Ich war unglücklich, aber man ließ mich leben. A. ließ mich leben. Das kann ich erst jetzt richtig schätzen. Ich war unglücklich, aber ich schritt dabei über eisige Gipfel. Etwas ist verlorengegangen, und das ist nicht die Jugend – nicht
nur
die Jugend.
Gestern Fernsehen. Bestürzend das täglich wachsende Ausmaß der Barbarei; eigentlich kann man dem gar nicht mehr folgen. Ich verstehe nicht einmal mehr ihre Sprache. Und unterdessen zerbreche ich mir als Schriftsteller den Kopf über stilistische Fragen. Aber warum auch nicht? Letzten Endes könnte ich auch Alpinist sein; wäre es eine sinnvollere Sache, einen Gipfel zu erklimmen und dort eine Fahne zu hissen? Sowohl das eine wie das andere sind sportliche Leistungen. Sportliche Leistungen schätzt man noch, sie allein, könnte man sagen. Schreiben, als wenn es ein Sport wäre. Lächerlich das Ganze, lächerlich und traurig mein Leben.
… Er erzählte, daß er, genau wie ich, nach langer Ehe seine erste Frau verloren und später wieder geheiratet habe; die Frau, die er geheiratet habe, habe eine erwachsene Tochter und diese einen Mann; daß er sich gefreut haben würde über eine reizende Ersatztochter, zu der er eine spielerische Vaterbeziehung hätte pflegen können, getönt von Liebe, Weisheit und einer gewissen unschuldigen Erotik, daß dieses Mädchen aber ein widerwärtiges Geschöpf sei, ein verschlossenes, mürrisches, mit Komplexen behaftetes Wesen, zu alledem völlig geistlos, und ihr Mann Techniker, sehr viel mehr brauche er wohl nicht dazu zu sagen; daß die beiden ein Kind bekommen hätten und die Großmutterleidenschaft seine Frau von ihm weglocke, was für ihn selbst nicht nachvollziehbar sei, obwohl er sich bemüht habe, den kleinen Kerl zu lieben, sofern man eine Exkrementier-, Freß- und Schlafmaschine überhaupt schon lieben könne; daß seine Frau ihn eines Tages auf den Spielplatz gerufen habe, wo sie den Enkel schaukeln und im Sandkasten spielen lassen habe, ihn gefüttert und umhergeschoben habe, wobei das Kind im schmutziggrauen Sand, zwischen schmutziggrauem Hundedreck, Hühnerkot und ich weiß nicht was noch herumgewühlt habe; daß das Kind dann auf dem Nachhauseweg unbedingt seine Hand in seinen, des Mannes, Mund habe stecken wollen, was auch mehrere Male passiert sei, und daß seine Frau ihn darauf angeherrscht habe, er dürfe die Hand des Kindes nicht in den Mund nehmen, weil so ein Kleinkind empfindlich sei und ganz schnell «alles bekomme» – wie sie sich ausgedrückt habe. Aus dieser Geschichte lasse sich, meine er, deutlich das totale Fiasko der Gefühlshierarchie erkennen, nämlich daß seine Frau ihren Enkel und ihre blöde, unkultivierte, deklassierte Familie liebe und erst dann, weit danach, an letzter Stelle sozusagen, ihn, ihren Mann. Denn schließlich habe sich doch das Kind im Schmutz gesuhlt, und eher hätte er etwas von dem Kind bekommen können als umgekehrt. Ich versuchte ihn zu trösten, von meiner eigenen Situation ausgehend und darauf verweisend, daß seine erste Ehe kinderlos gewesen und er von seiner ersten Frau sicher verwöhnt worden sei; aber ich sah, daß meine Worte ihm nicht halfen und der Vorfall ihn ungeheuer verletzt hatte. Er erwog, ein Testament zu verfassen, in dem er sein gesamtes Vermögen den noch lebenden Familienmitgliedern seiner ersten Frau hinterlassen werde, aber ich glaube, es ist mir gelungen, ihm das auszureden. Der ganze Mann war ungeheuer lächerlich, so
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