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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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ein Glas Wasser konnte ich bekommen. Und das nennen sie Liebe, Popularität. Magda zerrte mich wutentbrannt zum Ausgang. – Gestern den schon fertigen ersten Teil des Romans durchgelesen; Triumphgefühl. Die Frage ist, wie ich mir meine schöpferische Einsamkeit organisieren kann. (Sieh da, meine Sprache ist schon nicht mehr die meine – wann habe ich je so etwas geschrieben wie «schöpferische Einsamkeit»?) – Judits Besuch in Auschwitz. Dieses wichtige Moment habe ich mit vor Müdigkeit flimmernden Augen inmitten des Massengeschehens erfunden. – In zwei Tagen fliegen wir nach Madeira, mit unzähligen Büchern und meinem Laptop.
    Es erheben sich ein, zwei Fragen bezüglich meiner Bewertung als Schriftsteller, namentlich hinsichtlich der Absurdität, daß meine Bücher plötzlich zu Hunderttausenden verkauft werden. Was ändert das? Ich denke, die Fragestellung erübrigt sich; ich will mich nicht selbst im Rückspiegel von anderen sehen. Überhaupt muß ich mich von dem in der Welt kursierenden Kertész-Bild abgrenzen. (Noch immer habe ich mich nicht an meinen Namen gewöhnt; noch immer steigt Angst in mir auf, wenn er ausgesprochen wird.) – Politische Absurditäten, man benutzt mich, um sich mit meinem Markennamen wie mit einer Axt die Köpfe einzuschlagen, während immer mehr Unflat an diesem Namen hängenbleibt. Alles hinter mir lassen, weg, nach Berlin, arbeiten.
     
    25 . Dezember 2002  Mich von meiner Beschädigung durch den Nobelpreis erholen, als wenn nichts geschehen wäre. Die widerwärtige, lächerliche und aggressive Popularität, nachdem man in Ungarn Jahrzehnte lang nicht einmal wußte, daß ich existiere. (Allenfalls die Polizeibehörde.) Gestern las ich in einem deutschen Blatt, daß man den Nobelpreis als Todeskuß zu bezeichnen pflegt; einige hätten nach der Zuerkennung Selbstmord begangen, und in den meisten Fällen habe der Schriftsteller danach nie wieder ein bedeutendes Werk geschaffen. Das letztere ist leicht zu widerlegen (
Doktor Faustus
usw.), hingegen ist es eine Tatsache, daß die meisten großen Schriftsteller den Preis einfach nicht erhielten. Ich für meinen Teil habe diese Spekulationen eingestellt; ich wahre mir die ungetrübte Freude, die das Geld und die höheren Honorare bedeuten – Fakt ist jedoch, daß ich Ungarn beispielsweise für eine gute Weile verlassen muß. Aber das war ohnehin meine feste Absicht. In Ungarn hat man mich nie verstanden, und die Erklärung dafür ist einfacher, als ich geglaubt hätte: In Ungarn versteht man mich deshalb nicht, weil Ungarn
kein christliches Land
ist. – Im übrigen bin ich nicht geneigt, der bösen Verlockung nachzugeben, das Werk, das ich geschaffen habe, neu zu bewerten. Es kann sein, wie es will, auf jeden Fall ist es nur so, wie es sein
kann
; und so wird auch das sein, was ich im weiteren noch schaffe bzw. schaffen kann.
     
    29 . Dezember 2002  Madeira. Nachts überstrahlt der Mond das Wasser, und der sich am Meer entlangziehende, breiter werdende Lichtstreifen mit den Schatten der Palmen wirkt wie ein Gemälde von Gauguin.
    Rainer Stachs Buch über Kafka; das Beste, was in diesem Genre hervorgebracht werden kann. Selbst ein Roman. Ich lese begierig, und immer mehr überkommt mich die alte, sagen wir, Friedenszeit-Beklemmung. (Wo ist inzwischen der Nobelpreis; jedenfalls werde ich meine Hotelrechnung damit begleichen.) Stachs Buch bestätigt genau das, was ich über Kafka dachte. Schon immer bereitete er sich vor, Prag zu verlassen, um von seinem Schreiben zu leben. Der Weg des osteuropäischen Schriftstellers führt über Berlin; nach Berlin aber muß er auf jeden Fall kommen. – Irgendwann einmal wird sich auch noch erweisen, wie sehr Kafkas Romane osteuropäische Romane sind. – Am Flughafen stellte sich heraus, daß ich meinen Computer zu Hause vergessen hatte. Raserei zurück mit dem Taxi; während ich in meinen Taschen wühle, um Reisepaß und Flugticket hervorzukramen – meine Bewegungen sind von Parkinson und Hast gezeichnet –, klopfen mir Leute auf die Schulter: Man wolle nur gratulieren. Als sie meine Eile sehen, sind sie beleidigt.
     
    30 . Dezember 2002  Weiter Kafka. Ein Märtyrer, oder einfach nur ungeschickt? Ein genialer Schriftsteller, aber traut dem, was er schreibt, nicht. Großes Selbstbewußtsein, aber eine sich selbst beschädigende Bescheidenheit. Die Frauen beten ihn an, doch er verwickelt sich in unglückliche Liebesbeziehungen, in denen er nur Demütigung an Stelle von Befriedigung

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