Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
einer schändlichen, haßerfüllten und schmutzigen Welt. In wieviel Gemeinheit werde ich gebadet, in wieviel Schmutz gewälzt … Man könnte darüber auch lachen, wie die Götter auf dem Olymp lachten. Das Wichtigste, ich ziehe mich in meine kleine Arche zurück, wo ich den Roman schreiben kann, wie früher, unbekannt, erfüllt von Erregung über das Gewagte, von Schrecken über Fehlgeschlagenes, und im festen Bewußtsein, verloren zu sein und an meinem Verderben zu arbeiten. Nie hätte ich geglaubt, daß das Leben eines Erfolgsschriftstellers dermaßen ekelhaft ist. Welche Verblendung, welches Gaukelwerk! – Am besten nicht mehr davon reden. Am besten, wenn ich niederschreibe, was ich sehe und erlebe; für alles bleibt verflucht wenig Zeit.
Die Zeiten geraten durcheinander. Letzte Woche in Berlin. Entscheidungen und Beschlüsse. Ich kann nicht im Korrespondenz-und Administrations-Chaos leben. M. gibt ihre Stellung auf. Ich möchte in Zukunft hauptsächlich in Berlin leben. Je weiter weg, je fremder, um so näher, um so vertrauter. Weit weg von der Gegend, wo ich verstehe, was die Leute reden, und wo man meine angeblich unpatriotischen, feindlichen Äußerungen dem «Ungarntum» gegenüber ins Internet stellt. (Und das «häßliche Sybaritenwrack»?) Mir die Möglichkeit zum Schreiben schaffen. Den geistigen Raum schaffen, besser gesagt, wiederherstellen, in dem ich so lange gelebt habe und der meine einzige und wahre Heimat ist.
18 . Januar 2003 Selbstportrait 18 . Januar 2003 , sieben Uhr abends, in einem Nebenraum des Münchner Flughafens: Ein gehetzt aussehender älterer Herr mit schwarzem Filzhut, unter dem, wie aus dem aufgerissenen Kopf einer Strohpuppe, lange Fäden herausstehen und herunterhängen. Er kommt aus dem Pissoir, wäscht sich brav die Hände, sieht dabei im Spiegel seinen verrutschten Schlips, seinen mit verdrehtem Kragen übergezerrten Mantel; im Gesicht die Bartstoppeln von gestern, die Augen müde, der Blick scharf, der Mund noch immer jugendlich, weich und, glaube ich, sinnlich. Im Ganzen anscheinend ein sympathischer und der Hilfe bedürftiger Reisender, der, die himmlischen Straßen durchpflügend, einem geheimnisvollen Ziel entgegenstrebt und auf dem Flug nach Berlin die mit ein wenig Zuneigung gemischte Aufmerksamkeit einer jungen Stewardess auf sich zieht, als hätte er «den Bogen raus», obwohl er sich nur ungeschickt mit seinem Gepäck anstellt.
20 . Januar 2003 Gute Ratschläge wie zum Beispiel den, ich solle nicht in Berlin, sondern in Jerusalem leben, habe ich auch deswegen satt, weil ich in Jerusalem genauso wenig ehrlich sein könnte wie in Budapest. Diese Leute verstehen einfach nichts vom Wert der Distanz, vom Pathos des Nirgend-wohin-Gehörens, sie haben überhaupt keine Ahnung, was Lebensstil bedeutet; wo ein gehobener Stil doch mehr wert ist als jedwede «Heimat».
21 . Januar 2003 Die Parkinsonkrankheit stigmatisiert. Meine Hand zittert, und jeder sieht es. «Der Typ stieg aus dem Wagen aus; zuerst erschien eine zitternde Hand – du, ich wußte gar nicht, daß seine Hand zittert, ich war wirklich erschrocken. Er konnte sich kaum aus dem Auto hieven.» – Auch das Alter stigmatisiert. Allerdings nur solange, wie du deine Libido noch besitzt und glaubst, noch wie ein Mann leben zu können; sobald du das nicht mehr glaubst, wird es gleichgültig. Noch halte ich es mit der Stigmatisierung.
Nacht. Nach anderthalb Stunden Schlaf um zwei Uhr aufgewacht. Die Melancholie des dämmernden Kurfürstendamms am Nachmittag. Interessanterweise erinnert mich diese nördliche Großstadt viel mehr an das Budapest meiner Kindheit als Budapest selbst. Die Abendstimmung in einer Weltstadt, die eilenden Menschen, die erleuchteten Häuser, ein gewisser herber Duft, das Angebot – von Waren, Menschen, nicht existierenden großen Abenteuern –, die Stimmen, der ferne Klang von Musik: All das würde man im heutigen Budapest vergeblich suchen. Wieso? Was ist mit dieser Stadt passiert? Im Zusammenhang mit der Koffer-Geschichte blätterte ich in meinem Budapest-Essay: Wieviel Nostalgie, eigentlich sogar Liebe strömt daraus, und man versteht ihn falsch oder gar nicht. Nádas stimmt mit mir darin überein, daß ich von den Ungarn nicht verstanden werde, weil sie keine Christen sind.
25 . Januar 2003 Vor drei Tagen neuer Durchbruch beim Roman: Vier Computerseiten vom Judit-Kapitel, d.h. vom zweiten Teil, sind fertig. – Eine wichtige Feststellung, die am Ende nicht mehr in die
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