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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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sogenannte Werk ab – auch wenn das niemand etwas angeht.
    In der Nacht lange wach. Jetzt, mittags um halb drei, hier draußen im Grunewald: So lange dauerte es, um fertig zu werden, hier herauszukommen und ein wenig spazierenzugehen (diese Spaziergänge im Grunewald habe ich mir angewöhnt, um meinen Körper irgendwie intakt zu halten). Ich bin müde und verbraucht. Ein Kampf mit der Zeit. Magda ist bei mir und hilft. Manchmal fehlt mir die Bibel, so wie jetzt, damit ich die an Johannes gerichteten Worte des Herrn aus der Apokalypse zitieren könnte.
    9 . Februar 2003  Kurze Sätze. Kurze Nächte. Unaufhörliche Müdigkeit. Magdas Großmut, daß ich zum Arbeiten in Berlin bleiben konnte und nicht nach Budapest zurückmußte. Ich glaube, ich könnte gut in dem Bewußtsein leben, diese Stadt nie wiederzusehen. Die Sprache, die ich auf muttersprachlichem Niveau spreche, das Ungarische, scheint die fremdeste Fremdsprache zu sein. Egal, was ich sage, sie verstehen mich nicht, egal, was sie sagen, ich verstehe sie nicht. Zwischen uns hat sich eine süßliche Pseudosprache entwickelt, als spräche ich mit Autisten oder kleinen Kindern, freilich mit Kindern, die eine Pistole in der Tasche haben. Neuerdings werden sogenannte Studien über mich verfaßt, in denen man mich in der Rolle des Ungeheuers auftreten läßt. «Katastrophische Weltsicht», schreibt eine Dame über mich, und mein Computer unterschlängelt das Wort «katastrophisch» sogleich mit einer roten Linie, die anzeigt, daß ein solches Wort nicht existiert. Also existiere ich mit einer nicht existenten Weltanschauung, ziemlich gut – solange der Schauplatz meiner Existenz Berlin ist. Das größere Problem ist, daß mein Roman sich einfach vor mir verschlossen hat.
    12 . Februar 2003  Eine Nacht großer Erkenntnisse. Judits Bräutigam ist Auschwitz. Das eröffnet mir den Weg in den zweiten Teil. Aber was für Fehler habe ich bis jetzt gemacht. Für die Kunst gibt es keine Studienabschlüsse, keine Meisterprüfung – man ist bei jedem Werk Anfänger.
    Äußerst schlechte körperliche Verfassung. Ständige Müdigkeit. Die fortgeschrittene Parkinsonerkrankung. Die rechte Schulter beginnt sich zusammenzuziehen. Flüchtige Freuden, flüchtige Ärgernisse. In Berlin heute strahlender Sonnenschein. Anstatt spazierenzugehen, sitze ich wieder vor dem Computer, mit einem vom Bewegungsmangel schmerzenden Rücken und einem komischen Kribbeln im Bein, das wahrscheinlich von einer Gefäßverengung herrührt.
    13 . Februar 2003  Gestern ist der Text unter meiner Hand plötzlich in Bewegung gekommen und aufgeflogen.
    26 . Februar 2003  Heute habe ich, schlaftrunken, halb blind und taub, in meinem kleinen Zimmer im Wissenschaftskolleg überraschend Judits Besuch in Auschwitz niedergeschrieben. Vielleicht heute nacht … still, seien wir abergläubisch …
    28 . Februar 2003  Im Grunde bin ich ein unverbesserlicher Konservativer. Gäbe es Gott, wäre ich gottgläubig.
    2 . März 2003  Budapest. Vorgestern, am 28 ., mit der Abendmaschine angekommen. Die ganze Nacht nicht geschlafen. Gestern nachmittag ganz plötzlich, mit brennenden Augen, im Chaos der zu erledigenden Papiere und in gereizter Stimmung den Roman abgeschlossen.
Liquidation
ist fertig, das Werk, mit dem ich mich, vom ersten Einfall an gerechnet, 13 Jahre beschäftigt habe, genauso lange wie seinerzeit mit dem
Roman eines Schicksallosen
. Es ist eine kurze, dramatische, aufregende Lektüre geworden, «der letzte Blick, den ich – vor dem Abschied – auf Auschwitz richte».
    3 . März 2003  Gestern in Wien bei Ligeti. Er hat sich einen Bart wachsen lassen; mit seinem weißen Haar, dem weißen Bart eine durchgeistigte, herrliche Erscheinung. Ich mußte ihm lange von der Lebenskunst der fünfziger Jahren in Budapest erzählen, von den Kaffeehäusern, den Hochstapeleien, den diversen Geldbeschaffungsmodalitäten, von der Korruption der Chefs in den Propaganda-Abteilungen usw. Er genoß es sehr. Von dieser Welt, dieser Vegetation damals, in derselben Stadt, wußte er nichts. Er lebte «ernst» zu diesen Zeiten – kein Királyhegyi, kein Kállai, kein Humor. – Heute kriegte ich einen neueren Zeitungsartikel in die Hände: Ein versoffener Lump, der sich als Schriftsteller oder Dichter bezeichnet, schreibt, ich sei ihm von K., einem Schriftsteller, in einem Café vorgestellt worden; mein unbedeutender Geist und meine ebensolche Erscheinung hätten ihm nicht den Eindruck vermittelt, meine Werke lesen zu

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