Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
müssen. Nun aber, nach dem Nobelpreis, würden diese Werke, schreibt er, «getürkt», also werde er sie deshalb nicht lesen. Das alles salopp, mit einer unerhörten Überheblichkeit. – Meine Entscheidung, fort, endgültig fort von hier, wird jeden Tag durch irgend etwas gefestigt, und seien es noch so unbedeutende Kleinigkeiten.
5 . März 2003 Der tiefe Ekel, den die Aufnahme meines Nobelpreises in Ungarn bei mir hervorgerufen hat, ist unüberwindbar. Auch wenn meine Freunde, alle, die mir wohlwollen, mich lieben, mir pausenlos zureden, ich solle die ungeheuren Beschimpfungen und Schmähungen nicht ernst nehmen, darin äußere sich nur der hilflose Neid einer Minderheit, der rechten Intellektuellen: Ich glaube das nicht; meine Sinne, mein Bewußtsein wären nicht intakt, wenn ich in diesen Beschimpfungen nicht den mörderischen Rassenhaß spürte, die unversöhnlichen und perversen Affekte der zähnefletschenden Horde, mit denen sie die «anders Riechenden», die – mit ihren Worten – «Fremdherzigen» befeinden. Ich habe ein Recht auf diesen Ekel, der mich gewissermaßen als Memento vor Entwürdigung schützt, mich davor bewahrt, meinen Stolz weiteren Erniedrigungen und Schmähungen auszusetzen. Und wie wenig bei mir von sogenannten «antiungarischen» Gefühlen – die man mir fortwährend nachweisen möchte – die Rede sein kann, dafür war die kürzliche Berliner «Blaubart»-Aufführung ein gutes Beispiel, nach der wir am Schluß hinter den Kulissen gemeinsam mit der deutschen Opernsängerin «Ich brauche keine Rosen, ich brauche keinen Sonnenschein …» sangen. – Richtig, den Text dieser Oper hat ein Jude, Béla Balázs, geschrieben, die Musik hingegen hat jener Béla Bartók komponiert, den man, obwohl er kein Jude war, genauso wenig in Ungarn geduldet hat wie mich jetzt. Es geht also darum, daß man hier instinktiv das Gute verfolgt und das Schlechte und Dumme lobt. Und man sage mir nicht, das sei überall so, weil es dafür überhaupt keine Beweise gibt.
6 . März 2003 Morgens halb vier. Ich sitze in Berlin. Habe aus Budapest eine Grippe mitgebracht und kann nicht schlafen. Ich kann mich nicht damit abfinden, daß der Roman fertig ist; versuche noch daran herumzuwerkeln, ihn bei mir zu behalten, bevor er mir weggenommen wird und anderen gehört. Wahrscheinlich war es der letzte; ich werde wohl nie mehr einen Roman schreiben. Wie schade, wie unendlich bedaure ich das!
7 . März 2003 Linksliberale Budapester Juden gehen gegen Israel demonstrieren – in Berlin! Der neue Antisemitismus überschwemmt Europa: Endlich hat man einen Namen dafür gefunden, nun können die Hemmungen abgestreift werden. Seit die europäische Linke wiedergeboren ist, ist eine extreme Rechte nicht mehr nötig. Den Nazis selbst bleibt nur noch die Rolle eines gegen alle Welt verbündeten Ringer-und Boxervereins, in dem man die Sprache des Nationalismus des 19 . Jahrhunderts spricht.
11 . März 2003 Sebastian Haffners interessante Bemerkung über die «magische Persönlichkeit»: Ein «großer Mann», sagt er, der die Masse in seinen Bann ziehen will, muß entweder weit über oder tief unter dieser Masse stehen. Für das eine führt er Rathenau, für das andere Hitler als Beispiel an. – Gestern hielt ich meinen schön gebundenen, eleganten deutschen Essayband in Händen; meine Freude konnte allerdings nicht ungetrübt bleiben … Ich genieße diese wenigen ruhigen, frühen Morgenstunden, wenn die Neurosen (und Neurotiker) in der Großstadt noch schlummern und mich niemand mit Besitzansprüchen, mit Anträgen, die meine öffentliche Rolle betreffen, oder sonstigem Wahnsinn überfällt, der mein Leben ebenfalls in ein neurotisches verwandeln würde. Wenn es uns im Laufe unseres Lebens gelingt, etwas von höherem Rang zu schaffen, sollte uns klar sein, daß es unter nahezu unmöglichen Umständen und gegen den ständigen Widerstand der Welt verwirklicht wurde; daß seine fragile Existenz also anomal ist und daß es, sowie es nur geht, zerstört werden wird. Und bis dahin wird man es mißverstehen, herabwürdigen, schmähen.
17 . März 2003 Das Leben ohne Roman. Als wäre ich beraubt worden. Als packten um mich herum die Götter. Sie schicken sich doch nicht an, mich zu verlassen?
11 . April 2003 Armer Elender, vor seinem Judentum flieht er in die Gerechtigkeit. Glaubt, sich vom Gerichteten zum Richtenden wandeln zu können.
19 . April 2003 Abendessen auf der Via Veneto. András Schiffs Traumgarten in
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