Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Nobelpreisrede gelangt ist. «Ich begann zu schreiben, brauchte aber noch vier Jahre, um auf jene scheinbar einfache Idee zu kommen, die mir langsam immer lieber wurde: ein ironischer, als private Autobiographie getarnter Roman, der sich der bis zum Überdruß bekannten Lagerliteratur, ja, der Literatur an sich widersetzt.»
Samstagnachmittag Spaziergang im Grunewald. Das Haus von Samy Fischer, nicht weit vom Wissenschaftskolleg, in der Erdener Straße. Hier lebte, hier wirkte, hier starb er, 1934 , sagt die Gedenktafel. Also hat der Ärmste es noch erlebt. Er war 75 Jahre alt. – Ein mühsam absolvierter Spaziergang, Rückenschmerzen, auffällig fortgeschrittener Parkinson. Das Schreiben: ein Wettlauf mit der gnadenlos tickenden Uhr. Mein Vater, in meiner frühen Kindheit: Halt dich gerade! Ich klemm dir sonst einen Holzlöffel zwischen die Ellenbogen, damit läufst du dann rum! – Das tat er dann aber doch nicht. Es wirkt auch so.
28 . Januar 2003 Vorgestern in Weimar. Hotel
Elephant
, die Thomas-Mann-Suite. Das Gästebuch, dessen erster Eintrag das Andenken an Manns Besuch 1955 bewahrt: Er war nach Weimar gekommen, um die Schiller-Rede zu halten. Angeblich wurde das Hotel seinetwegen wiedereröffnet: Er hatte die Reise aus dem schweizerischen Küsnacht nur unter der Bedingung gemacht, im Hotel
Elephant
wohnen zu können. Das Apartment besteht aus vier Zimmern, an der Wand eine Kopie von Manns Nobelpreis, Thomas-Mann-Portraits, von Armin Müller-Stahl gemalt bzw. gezeichnet. Der letzte Eintrag stammte von Norman Mailer, der auf den Spuren Thomas Manns hier war. – Hätte ich genug Sinn für Mythologie, würde ich sagen: Es hat sich erfüllt. «Und es erfüllte sich Hiobs Leben …» usw. Buchenwald, Thomas Mann, Weimar – Weimar, Thomas Mann, Buchenwald, wo ich am Tag darauf eine Lesung hatte und eine Blume niederlegte … Nun, und mich ins Gästebuch eintrug …
29 . Januar 2003 Formal und auch existentiell ist es schwer, sich damit zufriedenzugeben, wie ich meine gelegentlichen Auftritte in Buchenwald apostrophiere. Ich vermag mich dem Ernst nicht recht zu nähern, insofern dieses Erlebnis der Wiederbegegnung ernst ist. Aber auch nicht der Groteske, insofern es grotesk ist. Vielleicht sagt
Der Spurensucher
doch etwas über das Traumartige und Unmögliche dieses Erlebnisses aus. Der
Prominente
, der dort vorgestern erschien, ist die monströseste Verkörperung dessen. Abends sah ich mich einen Moment lang auf dem Bildschirm (denn natürlich war gefilmt worden, wie ich «eine Blume am Mahnmal niederlege»): In meinem Gesicht spiegelten sich Bestürzung und Protest (dieses schreckliche, pathetische Gesicht, das seltsame Gesicht eines fremden Menschen, auf dem Kopf ein schwarzer Hut, die Hand zittert, die Gestalt ist gebeugt). Das Wetter war wieder grau, eine Art Schneeregen fiel, und die Anhöhe, die sich im Norden hinzieht, war mir so vertraut wie ein alter Ausflugsort. Ich habe keinerlei Beziehung mehr zu diesem Ort. Seit ich den Nobelpreis bekommen habe, geschieht etwas Furchtbares, wiewohl ich mich deutlich erinnere, daß ich, als ich den
Roman eines Schicksallosen
beendete, genau an diese Entwicklung gedacht habe; um es kurz zu machen, durch die unzähligen Lesungen, die Zitate in den Rezensionen usw. sakralisiert sich der Text des Buches irgendwie, und ich spüre, das ist das Schrecklichste, was mit einem Buch passieren kann, denn damit setzt sein langsames Dahinscheiden ein. Seine Frische, all seine Geheimnisse sind dahin. Aber das gleiche trifft auch auf meine Person zu, die jetzt gerade zum lebenden Leichnam erstarrt, und wenn ich das nicht mit ein wenig Zynismus und Ironie behandle, bringt es mich um: Ich ersticke an der falschen Ehrfurcht, der Liebe, dem Haß und der mir zugedachten öffentlichen Rolle. Es wäre angebrachter zu lachen, ja, zu johlen; gleichzeitig ist das Ganze trotzdem atemberaubend. Doch wie soll ich die Welt zu Mitgefühl bewegen, quasi zum Zusammenspiel mit mir, damit ich mich am Leben erhalten, dem Leben noch etwas abgewinnen kann?
1 . Februar 2003 Gestern den ganzen Tag in meinem Grunewalder Arbeitszimmer, im Wissenschaftskolleg, verbracht und über den Roman nachgedacht, entschlossen, müde und verzweifelt, wie einst in den schönen alten Tagen. Ich habe herausgefunden, daß sich in
Liquidation
die Konzeption des Heiligen verbirgt – aber wie lange ist das schon klar, eigentlich schon, seit ich
Kaddisch
schrieb! Und wie logisch! Dieser Roman schließt das
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