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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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zugleich ermahnt worden war, zehn Tage lang jede Menschenmenge zu meiden. – Die Übersetzung der Reemtsma-Rede ist fertig; es gibt einiges daran zu korrigieren, aber nicht viel. Mich begleitet ein starkes Gefühl von Unwirklichkeit. Es dürfte schwer sein, mich als psychologisches Wesen zu begreifen, dessen Handlungen von bestimmten inneren Motiven gesteuert werden. Ich führe einen vergeblichen Kampf um meine Integrität: Journalisten und sonstige Medienleute verfolgen mich im wahrsten Sinne des Wortes, wollen aus mir eine Sprechmaschine machen. – Nachdem wir aus Stuttgart zurückgekehrt waren, habe ich mir gestern im Schallplattenladen in der Knesebeckstraße unter anderem die
Gurre-Lieder
sowie Debussys
Saint Sébastien
gekauft. Wann ich noch einmal die Zeit haben werde, wie früher entrückt und im Rausch von Verzweiflung und Schaffen stundenlang Musik zu hören, ist eine andere Frage. – Marci und seine Frau erwarten das zweite Kind. M. ist glücklich. Ich verstehe das Ganze nicht, vor allem verstehe ich meinen inneren Protest gegen die Fortpflanzung nicht; einerseits entspringt er wahrscheinlich einfach der Eifersucht, der Angst vor Liebesverlust, andererseits einer Art von innerem Geiz und Dekadenz. Ich glaube, ich bin ein schlechter Mensch, der gar nicht mehr bestrebt ist, für einen guten Menschen gehalten zu werden. Und nebenbei glaube ich, daß ich auch ungemein müde bin. – Zur Politik wäre noch das eine oder andere zu sagen, aber das wäre wirklich unnütze und langweilige Zeitverschwendung. Es ginge darum, wie die Muslime Europa überschwemmen und in Besitz nehmen, direkt gesagt, zerstören werden; darum, wie Europa das alles handhabt, um selbstmörderischen Liberalismus und die Dummheit der Demokratie. Das ist stets das Ende: Die Zivilisation erreicht einen überzüchteten Zustand, in dem sie nicht nur nicht mehr fähig, vielmehr auch nicht mehr willens ist, sich zu verteidigen; in dem sie, unverständlicherweise, ihre eigenen Feinde verherrlicht. Und dazu kommt, daß man das alles nicht öffentlich sagen darf. Wieso nicht? Die Frage würde mich nicht beunruhigen, wenn ich nicht inzwischen zur «öffentlichen Person» geworden wäre. Ich fange an, den Zwang zu begreifen, aus dem die allgemeine große Lüge sich speist: Es ist einfach unmöglich, gegen diesen Zwang anzukämpfen, für den Politiker deshalb, weil er seine Popularität verliert, und für den Schriftsteller ebendeshalb; die Lüge und die totale Selbstaufgabe gehören zu den guten Manieren.
    Wie frühmorgens vorausgesehen, war der Tag zu nichts zu gebrauchen: Ich lungerte benommen herum. Gegen halb sechs ein frühes Abendessen mit M. bei Dressler. Das pariserisch eingerichtete Lokal erquickte mich wieder, der Blick auf die Platanen, die beleuchteten Schaufenster, die lautlos vorankommenden Autos und Doppelstockbusse. – Aus Budapest erreicht mich die Bitte des Außenministeriums, in Berlin auf einer (ich weiß nicht, auf wessen Mist gewachsenen) OSZE -Konferenz in Zusammenhang mit Antisemitismus eine Rede zu halten. Während in Budapest, wie zu hören ist, der Antisemitismus wütet und die israelische Fahne öffentlich verbrannt wird. Dennoch werde ich das Ersuchen nicht mit dieser Begründung zurückweisen, sondern mit meiner Überzeugung, daß der Antisemitismus nicht Sache der Juden ist. Meine Geschichte – nämlich daß man mich nach Auschwitz zu deportieren beliebte – ist für sich genommen völlig ausreichend. Was kann ich dem noch hinzufügen? Natürlich werden sie meine Argumente nicht verstehen, und ich werde mir neuerlich Feinde schaffen. – Mir kommt die Stuttgarter Dame in den Sinn, die mir beim Abendessen gegenübersaß und den bewundernden Blick nicht von mir ließ: Sie glaubte, einem Märtyrer gegenüberzusitzen. Es ist die paradoxe Situation entstanden, daß mich Leute dafür bedauern, daß ich das, was ich gemacht habe, ungezwungen getan habe: das heißt, mich an den äußersten Rand der – sogenannten – Gesellschaft zurückgezogen und meine Bücher geschrieben habe. Ich sei «ignoriert», «totgeschwiegen» worden, sagen sie und ziehen nicht in Betracht, daß ich meine Arbeit nicht unter Zwang, sondern aus Lust getan habe. Dabei muß ich anmerken, dort, vor Ort, habe ich manchmal selbst die Perspektive verloren und geglaubt, das Leben sei ungerecht zu mir. Was waren das für großartige Jahre!
    22 . Januar 2004  Eigentlich würde es noch zum gestrigen Tag gehören, zur fortlaufenden Seifenoper: Morgens

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