Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
subjektiv. Aber ich gebe noch nicht auf. – Heute vormittag Spaziergang mit M. auf dem Kurfürstendamm, in der blassen Wintersonne, unter blaßblauem Himmel, in Liebe. Die breite Straße zwischen den weißen Häusern, mit den drei Platanenreihen in der Mitte, war unsagbar tröstlich, für uns beide.
7 . Januar 2004 Morgens 6 Uhr 20 . Am Abend ist frischer Schnee gefallen; der Kurfürstendamm leuchtet weiß, und auf den Gehwegen tauchen die Räumfahrzeuge auf. – Sonst ist kaum etwas zu sagen. Das Vorwort mußte ich verwerfen; der tagebuchartige Mischmasch aus Fiktion und ganz konkreten Tatsachen ist eine unmögliche Idee. Es handelt sich um allgemein bekannte, öffentliche, man könnte sagen zeitgeschichtliche Tatsachen: Ich kann also nicht im Namen einer imaginären Person sprechen, die sich, sagen wir, in Szeged mit Fejtő trifft oder den Nobelpreis erhält. Bleibt der unmittelbare Tagebuchcharakter, und die Namen kann ich leider auch nicht ändern. So ist es weniger dramatisch. – Vorgestern (am 5 .) Frau Becker. Post, Mittagessen, Sonstiges: der Tag verging. Spät ins Bett; ein leerer Tag; ich lebe mit stumm zusammengebissenen Zähnen. – Gestern, d.h. am 6 .: Putzfrau, Bank (wegen der nicht funktionierenden Karte), am Nachmittag J. und «D.», J. installiert Drucker und E-Mail auf M.s Computer, zwischendurch Abendessen bei Dressler. Der Junge arbeitete bis abends um elf an dem Gerät, ist damit immer noch nicht fertig und macht am Donnerstag weiter. Nachdem die beiden gegangen waren, nahm M. von neuem den Faden der Phantasie auf und textete eine Weile an ihrer Lieblingsfiktion, der zwischen mir und «D.» gegenwärtig oder früher bestehenden «Beziehung». Ich blieb gelassen, allmählich gewöhne ich mich daran, daß die Menschen sich etwas zusammenphantasieren, ihre Phantasien als Realität betrachten und mir diese «Realität» wie eine Zwangsjacke überziehen. Schließlich hatte sie genug und hörte auf. Der Blödsinn, der mich umgibt, umgibt mich zu intensiv, als daß ich ein normales geistiges Leben führen könnte. Ich vegetiere dahin. Es gibt nichts Entsetzlicheres, als sich in Auflösung zu befinden, in Auflösung zu leben. Ich habe zu nichts Lust, auch nicht dazu, mit diesem Stoff (der Auflösung) etwas anzufangen.
8 . Januar 2004 Gestern mit der dritten Person Singular (im Manuskript der
Letzten Einkehr
) experimentiert: sehr attraktiv. Stärker als die erste Person. Auch geheimnisvoller. Also muß es gemacht werden. Das Vorwort wird sich irgendwann einmal in ferner Zukunft schreiben lassen. Ist das nicht etwas naiv? Nein, denn es eröffnet die Möglichkeit des Spiels. Ohne Spiel ist sowohl das Leben als auch die Kunst langweilig. – Gestern abend mit M. im Margaux. Als späte Erinnerung an meinen Geburtstag. Von den etwa fünf, sechs Gläsern Wein hatten wir beide einen Schwips. M. locker, goldig, so wie früher. Als wir nach Hause kamen, nahm ich sie sofort in die Arme.
11 . Januar 2004 Morgendämmerung. Vorgestern abend ist M. nach Budapest geflogen; ich habe sie ungern gehen lassen, sie fehlt mir. Die Abendmaschine war voller ärmlicher Araber, die in Budapest in irgendeine Nahost-Maschine umsteigen. Eine sonderbare Art armer Familien, mit Frauen, großköpfigen, aggressiv brüllenden Kindern; anstatt mit ihnen Mitleid zu haben, assoziiere ich Bomben und Terror. Europa wird bald zugrunde gehen an seinem einstigen Liberalismus, der sich als naiv und selbstmörderisch erwiesen hat. Europa hat Hitler hervorgebracht, und nach Hitler waren keine Argumente mehr geblieben: Dem Islam taten sich alle Tore auf, man wagte nicht mehr, über Rasse und Religion zu sprechen, während der Islam fremden Rassen und Religionen gegenüber keine andere Sprache kennt als die Sprache des Hasses. – Das Vorwort habe ich fertig, es ist gut geworden und hat dadurch seine Unmöglichkeit offenbart. Traurig. Aber die dritte Person behalte ich trotzdem bei, glaube ich. Das ist die radikale Subjektivität, von der ich sprach. – Gestern Koltai. Sympathisch, wie immer, diesmal aber schien er auch entschieden, was die Prinzipien seiner Regie betrifft. Wir unterhielten uns lange beim Italiener in unsrer Straße; tranken viel. Ich versuchte es mit einem Schlafmittel, es half nicht. Im Grunde plagen mich Zweifel bezüglich meiner Arbeit, ich weiß nicht, ob ich nach
Galeerentagebuch
und
Ich – ein anderer
noch einen Tagebuchroman schreiben sollte.
Jetzt ist es «vormittags» Viertel zwei; nach dem Frühstück
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