Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Eßbestecks mischt sich von Zeit zu Zeit das Tuten der Schiffshörner, über den dunklen Fluß huschen rote Lichter: aus-oder in den Hafen einfahrende Schiffe. Reemtsma ist der liebenswürdigste Gastgeber, er erinnerte sich noch daran, daß M. keinen Fisch ißt. Auf dem Heimweg im Taxi beschwerte sich M. darüber, daß er kein Wort über meine Rede verloren habe, deren Text wir ihm Tage zuvor geschickt hatten. Ich wies sie darauf hin, daß Reemtsma nicht nur Norddeutscher sei, sondern auch sein Charakter ihm nicht gestatte, zu loben oder zu kritisieren.
Am nächsten Tag spät aufgestanden, Frühstück im Hotel, danach Spaziergang in der eleganten Innenstadt. Nach M.s Ansicht erinnert der Alsterbogen, die Lage des Hotels mit den gegenüberliegenden Palästen und Türmen an Stockholm und das Grand Hotel. Daran ist etwas Wahres. Am Ende des Spaziergangs verfallen wir in einen Kaufrausch, kaufen Winterschuhe, Pantoffeln, einen Gürtel und spitze schwarze Schlangenlederschuhe für mich, für M. schmale, hübsch geformte braune, sie findet sie zwar zu eng, erklärt aber gutgelaunt, daß schöne Frauenschuhe nach dem Wort irgendeines Modezaren nicht dazu da seien, um darin zu laufen, sondern zu sitzen. – Am Abend meine Rede im Theatersaal der Kampnagelfabrik. Achthundert geladene Gäste, der Bürgermeister, ein eleganter Mann mit einem guten Gesicht, begrüßt mich in seinen einleitenden Worten extra, er hat seine Rede auf Zitaten aus meinen Schriften aufgebaut. Ich werde unruhig, doch – wozu es leugnen – es tut gut. Nach ihm spricht Reemtsma, dann ich. Tatsache ist, ich ernte großen Beifall mit der Rede.
Am Tag darauf sahen wir uns die Feininger-und Klee-Ausstellung in der Kunsthalle an. Feininger kannte ich bislang nicht, er gefällt mir sehr, Klees Zeichnungen von 1933 aber wühlten mich auf. Am Abend Lesung aus
Liquidation
, im selben Theatersaal wie am Vortag, doch diesmal vor eintausend Zuhörern. Draußen fiel dichter Schnee, legte sich auf die Dächer der Häuser, die Zweige der Bäume und verwandelte die Gegend in eine Märchenlandschaft. Reemtsma hatte uns einen von seinen Sicherheitsleuten zusammen mit einem Auto zur Verfügung gestellt; langsam glitt der Wagen durch das leuchtende Weiß zum Hotel zurück. M. liebt Schnee. Hamburg gefällt ihr sehr gut, auch mir. Wir beschlossen, im Frühling für einen Tag wieder herzukommen.
Zu Hause, im Berliner Penthouse, Glück und Erleichterung. In der Nacht sah ich mir einen idiotischen Film im Fernsehen an, auf der Erde tauchen Außerirdische auf, und natürlich wollen die Menschen sie vernichten. Es war so schlecht, daß ich nicht aufhören konnte – wie A. zu sagen pflegte, solange sie lebte und solange sie sprechen konnte.
1 . Februar 2004 Gestern abend mit dem Esterházy-Nachwort fertig geworden; zeigte es heute M., die es gut findet. Den ganzen Tag strömender Regen, man konnte nicht auf die Straße gehen; da mein Drucker kaputt ist, verbrachte ich den Tag damit, alles wichtige oder aktuelle Material vom Computer auf eine Softdisk zu kopieren. Hörte mir den dritten Satz der 4 . Symphonie von Mahler an und genoß die Zartheit, die die Streicher der Israelischen Philharmoniker dieser ohnehin überirdischen Melodie verleihen. Nachmittags ein wenig an der
Letzten
gearbeitet. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage, ob es nicht sehr eintönig ist, wenn ich schon mein drittes Buch als Tagebuch schreibe, aber ich glaube, diese Fragen stelle ich mir nur unter dem Einfluß der bösartigen ungarischen Kritik. Am Abend aßen wir im Café Einstein in der Kurfürstenstraße, Consommé und Tafelspitz. Später rief Koltai an, berichtete über die Dreharbeiten der vergangenen Woche. Mein Verhältnis zum Film ist ambivalent, doch Koltai mag ich unbedingt. Gestern nacht konnten wir auf Arte einen Bericht über die Budapester Dreharbeiten sehen, und auch ich trat dabei auf, als interviewter Autor; das Interview war vor ein paar Wochen in einen Raum der Akademie der Künste gemacht worden. Ein bißchen ekelte ich mich vor dem dick gewordenen Kerl auf dem Bildschirm, der mit starkem Akzent schlecht deutsch spricht, und es störte mich mächtig, mit diesem Kerl identisch zu sein. – Ein langes Gespräch mit M. über den armen Tamás, den sterbenden Jungen eines Verwandten; ein schwieriger Fall, denn wir können außer dem, was wir tun, nichts machen, und M.s gutem Gewissen reicht es nicht, daß wir die Leute mit Geld unterstützen und einen Psychologen und Besucher zu
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