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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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dem kranken Jungen schicken. Da M. sehr anfällig für Schuldgefühle ist, bemühte ich mich, ein gewisses Gegengewicht herzustellen, damit sie nicht so darunter leidet. Mit Teufels Zunge machte ich ihr klar, daß es wichtig sei, Abstand zu wahren, daß wir nicht jeden Sterbenden retten können, daß wir den Jungen letzten Endes kaum kennen und daß wir unsere Gefühlsreserven möglichst nicht aufbrauchen sollten, kurz, daß unsere Anteilnahme sich nicht in Kitsch verwandeln sollte. Es war schwer, Brücken bauende Formulierungen zu finden, und dabei dachte ich daran, daß alle Zeichen darauf hinweisen, daß ich in Wirklichkeit ein schlechter Mensch bin. Es ist am besten, ich meide solche Gelegenheiten, bei denen ich meinen Charakter auf die Probe stellen muß; auch wenn ich hin und wieder, aus Faulheit, aus Feigheit oder einem Minderwertigkeitsgefühl, fähig bin, mich aufzuopfern.
    2 . Februar 2004  Heute am frühen Morgen ein Traum: Ich bin entweder in der Pasaréti-Straße oder in der Szilágyi-Allee – eher aber in Pasarét. Ein junger Mann klingelt, ich sehe ihn durch den Spion in der Tür (Meineke-Straße): ein dünner, dunkelhaariger junger Mann, er sieht ein bißchen aus wie Begnini, ein bißchen wie Kornitzer. Ich lasse ihn herein. Im Zimmer (Pasarét) zieht der Junge zwei Messer hervor: ein skalpellartiges, außerordentlich scharfes mit kurzer Klinge und ein großes mit Wellenschliff, wie man es zum Brotschneiden verwendet (Meineke-Straße). «Was willst du?» frage ich. «Cognac, nur Cognac», sagt er darauf, mit zugleich drohendem und entschuldigendem Gesichtsausdruck. Ich öffne die Klapptür des Sekretärs (Pasarét), und es fällt mir ein, daß ich, während ich so tue, als suchte ich Cognacgläser, schnell zur Tür hinausschlüpfen könnte. Das mache ich auch, aber der junge Mann ist mir auf den Fersen und sticht mir, während er irgendwie die Halsschlagader bedroht, sein Skalpell genau hinters Ohr. Mit heiserer Stimme schreie ich durch das Spionfenster der gegenüberliegenden Wohnung (Pasaréti-Szilagyi): «Hilfe! Hilfe!» – woraufhin M. mich aus dem Schlaf wachrüttelt. – Etwas später, nach dem Frühstück, kann ich den Traum leicht deuten: Ich erkenne deutlich das gestrige Gespräch über Tamás, das Motiv des schlechten Gewissen und der Angst vor der Tat. – Schwer aufgestanden, Spaziergang mit M., kleiner Imbiß im Café Berlin, pünktlich um halb fünf erschien J., dieser riesenhafte, gute Mensch, er wechselte den Toner in meinem Drucker aus und brachte ein bleistiftgroßes Teil mit, auf das ich den gesamten Inhalt meines Computers speichern kann. Das taten wir auch. Aber da war es schon gegen acht, und wir gingen hinunter zu Diekmann zum Abendessen. – Von Alexander Fest kam ein netter Brief – die Entscheidung reift heran –, und es kam die neue
ÉS
, mit einer anderthalb Seiten langen Zusammenstellung des hier erschienenen kritischen Echos; ein großer Trost nach der üblen Aufnahme in Ungarn. – Unendliche Müdigkeit, «nachlassende Lebenskräfte».
    6 . Februar 2004  Morgens halb sieben. Vorgestern Martina Wachendorff aus Paris mit zwei französischen Journalisten und einem Fotografen. Wir vereinbarten, daß wir uns mit einem weiteren, hier in Berlin stattfindenden Interview von der Parisreise freikaufen können. Nach dem Interview Mittagessen zu dritt, mit M.; vorher hatte der Fotograf noch in dem kleinen Innenpark des Hotels Kempinski Aufnahmen von uns beiden gemacht: Ich legte M. den Arm um die Schulter, und sie gab diesen lange nicht gehörten, intimen kleinen Laut von sich, den ich so liebe und der mich für einen Moment in unsere abenteuerliche Vergangenheit zurückführte. Es war schon neun Uhr abends, als wir in die Meineke-Straße zurückkamen; die sogenannte PR hat mir den ganzen Tag gestohlen. Nachts dann doch noch lange an der
Letzten Einkehr
gearbeitet, allerdings um den Preis, daß ich den gestrigen Tag halb benommen zubrachte. Posteingänge, Anfragen und Aufforderungen – «ein paar Sätze» zu Appelfelds Buch schreiben, das in Polen erscheint, im Frühjahr zum Buchfestival nach Budapest kommen usw. usw. – eine Lebensform, die mich unter sich begräbt und die ich einfach nicht beherrsche. Auf allen Seiten gekränkte Menschen und Institutionen: Sie müßten mich nicht kümmern, dennoch leide ich darunter. Schlaflosigkeit plagt mich. Morgen Neumarkt mit András Schiff: Ich liebe ihn, aber vorerst fürchte ich mich vor der Reise, der Erschöpfung, den

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