Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
aufgeräumt oder den Abwasch nicht gemacht hat, bellt er mit seiner durchdringenden Kommissstimme: »Mir sinn hei net am Pafendall!«
Deshalb bremst der Junge nun ab. Er muss nämlich gleich an der Brauerei vorbei, und es könnte sein, dass Vater zu dieser sonntäglichen Stunde dort irgendwo mit seinen Freunden sitzt und einen Frühschoppen nimmt. Deshalb späht er vorsichtig um die Ecke, aber die Luft ist rein. Trotzdem wird er einen kleinen Umweg über die Malakoff-Gasse machen, sicher ist sicher. Nun tritt er wieder in die Pedale, seine spitzen Knie bewegen sich auf und ab, das Metall ächzt. Er hat keine Zeit zu verlieren, denn sonst ist das Spektakel vielleicht vorbei, bevor er überhaupt dort ankommt.
Vorhin soll einer gesprungen sein, am Heiligen Sonntag, zu Mariä Heimsuchung, man muss sich das vorstellen. Er kommt am alten Friedhof vorbei. Jene, die von der Rouder Bréck gesprungen sind, liegen nicht auf dem Pfaffenthaler Cimetière des Bons Malades. Sie liegen überhaupt nicht auf einem Friedhof. Denn Selbstmord, das weiß er, ist eine sehr schlimme Sünde. Es hat nicht so sehr mit dem fünften Gebot zu tun. Der Priester hat es erklärt: ›Du sollst nicht töten‹ gilt zwar auch für einen selbst, aber der Kern der Sünde ist ein anderer. Wer von der Brücke springt, lehnt es ab, von Jesus Christus gerettet zu werden. Und deshalb landet er nicht nur in der Uelzecht, sondern auch in der Hölle.
Marian, der Sohn der Duponts, hat es ihm vorhin in der Kirche gesteckt. Er hatte es von einem Kumpel aus Pfaffenthal, es soll erst vor zwei Stunden passiert sein. Ungewöhnlich, dass einer um diese Zeit springt, meistens springen sie ja nachts. Und der Junge hat sofort begriffen, dass dies eine einmalige Chance ist. Die Polizei lässt sich ja ohnehin Zeit, wenn einer springt, das weiß man. So wie sie sich bei allem, was in der Unterstadt passiert, mehr Zeit lässt als in der Oberstadt, wo die feinen Leute wohnen. Manchmal dauert es Stunden, bis sie alles absperren. Und heute ist auch noch Sonntag, und irgendetwas passiert oben auf dem Kirchberg, das mit Politik zu tun hat. Der französische Präsident Giscard d’Estaing kommt, hat Vater beim Frühstück erzählt. Es gehe um die Einführung einer neuen Währung namens Ecu.
Der Junge hat nicht ganz verstanden, was mit den belgischen Francs, mit denen er seine Süßigkeiten und Spirou-Hefte bezahlt, nicht mehr in Ordnung sein soll; aber er hat sofort begriffen, dass sich heute kein Polizist für den Brückenspringer interessiert, dass es Stunden dauern wird, bis die Police Grand-Ducale auftaucht. Folglich besteht die einmalige Chance, alles aus nächster Nähe zu sehen. Es gibt nämlich gewisse offene Fragen, was die Selbstmörder angeht. Pierre aus der Montée du Grund behauptet, die Brückenspringer sähen nach dem Aufprall aus wie ein beignet aux pommes, wie ein plattes Apfelküchlein. Eine andere Theorie besagt, sie zersprängen in tausend Stücke. Und Nicholas aus der Klasse über ihm hat erzählt, sie würden nochmals in die Höhe hüpfen, wie ein Fußball. Der Junge hält das für Unsinn. Andererseits ist Nicholas’ Onkel Gendarm, was der Fußballtheorie ein gewisses Gewicht verleiht.
Als er die Rue Vauban hinunterkommt, kann er die Brücke bereits sehen. Etwas später überquert er den Fluss und biegt in die Rue Ménager ein. Vor der Bäckerei stehen mehrere Männer und unterhalten sich. Einer schüttelt energisch den Kopf, man kann sich schon denken, worüber die sprechen. Er ist jetzt so nah, dass er die Brücke nur noch sehen kann, wenn er nach oben schaut. Aber er guckt lieber nach vorne, er achtet darauf, ob ihn vielleicht jemand erkennt – Nachbarn oder Verwandte, die ihn beim Vater verpfeifen könnten.
Aber es sind alles Fremde. Pfaffenthaler Frauen in geblümten Schürzen, Männer in schäbigen Sonntagsanzügen. Dann sieht er den Menschenauflauf, bestimmt dreißig oder vierzig Leute, die auf einem Grundstück am Ufer herumstehen. Da ist keine Polizei, keine Absperrung, die Leute laufen einfach so durcheinander. Sie gehen zu der steilen Böschung, gucken sich die Bescherung an, und wenden sich wieder ab. Die meisten stecken sich auf den Schreck erst einmal eine Zigarette an.
Der Junge stellt sein Fahrrad an einen Baum und geht auf die Menschenmenge zu, verstohlen, denn er weiß natürlich, dass Kinder hier nichts zu suchen haben. Aber dann sieht er, dass da bereits andere Jugendliche herumstehen. Eine Frau hat sogar ihren Kinderwagen dabei.
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