Letzte Fischer
war glücklich, mit ihm Zeit verbringen zu können, bevor es dann doch sehr spät zum ersten Liebesakt gekommen war. Luise hatte sich als Teenagerin immer gefragt, wer wohl mehr gelitten habe. Die Mutter, die zwar körperlichen Schmerz erfahren habe, die aber da schon erwachsen gewesen sei, oder der Stiefvater, der als Kind so heftig um Liebe, Nähe und Wärme gekämpft habe und leer ausgegangen sei. Gedemütigt seien sie beide worden, Robert schien sich schneller davon erholt zu haben, weil Mathilde im Mai noch immer diesen Lebensüberdruss verspüre; in den letzten Jahren jedoch nicht mehr in jedem Mai. Als überkomme sie das Schreckliche als Erinnerung eher wellenförmig. Nach eigenem Gesetz und Zyklus. Mathilde habe sich gewehrt, meinte Luise stolz. Ihre Mutter habe sich nicht endlos schlagen, vergewaltigen und demütigen lassen. Sie sei in die vorpommersche Universitätsstadt geflohen, wo sie keinen Menschen gekannt habe, und habe dort studiert. Mathilde sei nicht ins heimische Dorf zurückgekrochen, sie habe ihre Tochter allein aufgezogen, sie habe Robert kennengelernt, sie habe sich nicht mit der Opferrolle abgefunden. Sie habe die Dämonen alleine besiegt, bis dann Robert da gewesen sei, um die letzten Reste wegzufegen.
Nein, sie war nicht nur stolz auf Robert, sie war es auch auf ihre Mutter, und bestimmt hatte sie deshalb eine so gute und stärkende Kindheit durchleben können.
Und doch, Luise war sich so sicher, eine einzige Lebenslüge hielt Mathilde tapfer durch! Sie war sich sicher, das Produkt einer jener Vergewaltigungen zu sein. Da brauchte sie gar keine Beweise. Niemals hatte Mathilde es eingestanden, und Luise hatte dieses Thema auch lange nicht mehr angesprochen; und während sie zur Vorpieck ging, entschloss sie sich, ihre Mutter niemals mehr danach zu fragen.
Sie wusste jetzt, ein paar Lügen müsse man jedem Menschen zugestehen, wenn man ihn nicht in Abgründe stürzen wolle. Ein paar Lügen müsse jeder Mensch behalten dürfen, um sein Gesicht wahren zu können. Um der Würde willen. Und des Stolzes.
Luise drehte das Gesicht aus dem Wind, der plötzlich so scharf geworden war, dass ihr Salz in die Augen kam, und sah die Vorschiffluke geöffnet. Sie war ordnungsgemäß eingehakt und trotzte so dem Sturm. Luise hockte sich hin und rief: » Doppelbläser ?«
»Ja, was gibt’s? – Ach, du! – Du, hier können wir nicht, hier ist es einfach zu dreckig!«, kam es von unten, worüber Luise lachen musste: »Du denkst wohl immer nur an das Eine, was?«
»Was denkst du denn? Ich bin ein Mann!«
Tommys Gesicht erschien, und Luise berührte es flüchtig, ehe sie sagte: »Wir müssen zurückhaltender sein. Die Männer fangen an, sich zu beschweren.«
»Verstehe! Darum die Strafarbeit hier?«
»Genau. – Der Baske ist dabei wohl die treibende Kraft. Es wäre besser, du erzählst ihm nichts von uns.«
»Okay, kann ich machen. Ich gehe mal wieder runter, wir treffen uns später, ja?«
»Natürlich.«
»Aber nur, wenn er nicht bläst.«
Luise nickte und sagte: »Nimm es wie ein Mann! Arbeit ist dazu da, dich zu bestätigen.«
»Alles klar, wenn du das sagst«, antwortete er und verschwand wieder in der Dunkelheit der riesigen Last, in der die Anker lagerten, die Ersatzschraube, Hunderte Nieten und Nägel, Dutzende Fender und Seile und sogar ein zweites Steuerrad. Alles musste geordnet und geputzt werden, doch sobald Tommy auf der einen Seite fertig war, hatte der Seerhythmus auf der anderen schon wieder alles durcheinander geworfen. Die Vorlast aufzuräumen, war eine Arbeit, die nie endete. Tommy wusste, der Befehl ›Vorschiff aufklaren‹ habe früher ›zehn Hiebe mit der Neunschwänzigen‹ geheißen. Es war ihm egal, er hatte genug Willen! Er konnte während dieser Arbeit ungestört an Luise denken, und das Erinnern erschien ihm dabei fast so kostbar wie das Handeln selbst. Schon dachte er beim Sortieren an ihre Lippen, während sie sich erhob und zum Mittelschiff ging.
Sie stieg innenbords die Stufen herunter und ging zu ihrem Deck, um sich auf die Koje zu werfen. Die Müdigkeit kam so plötzlich, dass sie die letzten Schritte kaum noch schaffte. Thomas lag auf seinem Bett und schnarchte, als sie nach oben kletterte und mit den Stiefeln an den Füßen einschlief.
Sie träumte in der nächsten halben Stunde, sie befände sich auf einer Hochseeyacht im Kampf gegen Wung Lee, die brutalste Piratenanführerin der modernen Zeit. An Bord, festgebunden an den Mast, befanden sich auch Robert
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