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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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»Immer daran denken!«
    »Woran?«, fragte der Kapitän, der sich das Gelenk rieb: »Was meinen Sie, hübsche Lady?«
    »Die hübsche Lady hat sieben Piraten getötet und achtzehn verletzt. Auch ich habe ein Stück Holz, in das ich Kerben ritze, und eigentlich ritze ich ganz gerne Kerben in dieses Holzstück. Es ist von einem Riesenmammutbaum.«
    Dem Kapitän lag das Wort ›Schlampe‹ auf der Zunge. Er drückte es weg und zog an der Pfeife, während Luise die Brücke verließ.
    Auf der Nock atmete sie erst einmal durch, umklammerte die Reling des Schanzkleides und sah aufs Wasser. Da war sie wieder, die Vorstellung einer Erinnerung an ihren Erzeuger. Hatte sie ihn sich so nicht immer vorgestellt? Schmierig, voll unterdrückter Aggressivität, feige und mit fettigen Haaren im Gesicht? Wie hatte ihre Mutter nur auf so einen Mann hereinfallen können? Sicher, sie war damals achtzehn oder neunzehn Jahre gewesen, und ja, er hatte ein riesiges Grundstück auf Deutschlands schönster Insel. Hatte das damals schon gereicht? Bestimmt wollte Mathilde als junges Mädchen auch einfach nur weg aus ihrem Dorf. Von einer Hölle in die andere, oder malte Luise diese Vergangenheit zu düster und zu naiv? Sie nahm sich, jetzt und hier, auf diesem Walfänger vor, ihren Erzeuger doch zu suchen; zu suchen und zu finden. Ihn sich anzusehen! Sein Stottern zu hören, wenn er denn stotterte. Sein Grinsen auszuhalten, wenn er denn grinste. Vielleicht sah er ja auch ganz anders aus als diese übernächtigten Männer hier? Sie tat den Walfängern bestimmt Unrecht, wenn sie eine Parallele zog, ohne den anderen Strich zu kennen. Schließlich war ja auch Robert ein Hochseefischer. Und ihr Stiefvater sehe zwar auch nicht gerade wie ein Model aus, aber von innen strahle er doch eine Männlichkeit aus, die sie immer beruhigt habe. Luise lockerte den Griff um die Reling, nahm den Blick vom Meer und stieg langsam die Nocktreppe hinunter.
    Sie wollte nicht ans Gestern denken, zumal sie es ja gar nicht kannte! Ewig dieses Spekulieren. Weibliche Intuition, die ja doch nichts brachte! Oder doch? Entscheidungen? Klarheit? Oder doch nur falsche Schlüsse? Oder was? Wenn man ein Elternteil nicht kennt, wird man auch sich selbst zur Hälfte nie verstehen.
    Während sie übers Oberdeck schlenderte und Tommy suchte, fragte sie sich jedoch, wie sich wohl Robert Rösch an Bord eines Schiffes verhielt? Dieser Mann, der unter lauter Frauen aufgewachsen war. Eine Großmutter, die nach dem Krieg aus Danzig fliehen musste und die dabei einen Männerhass entwickelte, der selbst ihren einzigen Enkel fast vernichtet hätte. Eine Mutter, die die Sklavin ihrer eigenen Mutter war und die wie eine Medea ihr eigenes Kind dem Hass der Großmutter geopfert hatte. Blindlings. Masochistisch zur einen Seite, sadistisch zur anderen. Und als der Junge Robert an der Verweigerung jeglicher Gefühle eingegangen war, da adoptierte die Mutter ein Mädchen, zwei Jahre jünger als er. Dieses fremde Mädchen bekam dann die ganze Liebe der Mutter, weil die Großmutter dies guthieß. Der Junge Robert wurde seitdem gänzlich außen vorgelassen; da war er gerade mal zehn Jahre alt. Und weil selbst jene Sklavin nicht immer Freude an ihren Ketten hatte, war sie oft ausgebrochen. Zehn Mal war sie in den ersten Jahren seit Roberts Geburt umgezogen, und bis er sie mit achtzehn Jahren verließ, waren es neunzehn Umzüge und vier Stiefväter geworden, die sich allesamt als Alkoholiker und Heiratsschwindler entpuppt hatten. Und Robert war durch diese Umzüge immer wieder die Möglichkeit genommen worden, Freundschaften aufzubauen und zu lernen, was es hieß, Teil der Gesellschaft zu sein. Was für eine unzuverlässige Mutter doch, die ihren ganzen Lebenszweifel dem Sohn zugemutet hatte, der an dieser Bürde schwer trug. Und als er diese lebensunfähige und glücklose Mutter mit achtzehn Jahren vom Buckel warf, da kamen sie natürlich, die eigenen Selbstzweifel. Doch er ging nicht zum Moloch zurück, wie er die Symbiose von Großmutter und Mutter nannte. Er machte einen Bogen um sie, und als er dann die ebenfalls am Boden zerstörte Mathilde fand, auch sie damals am Ende ihrer Kräfte, da hatten sich zwei Menschen gefunden, die seit diesem Tage einfach nur dankbar waren. Der einsame Junge, der nie zu sprechen gelernt hatte, dieser Kaspar Hauser, lebte auf, als er als Erwachsener die traumatisierte junge Frau fand, die so froh war, dass er lange Zeit keine körperlichen Annäherungsversuche machte. Sie

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