Letzte Fischer
wurde: »Egal, was du uns beichten willst, ich mag keine Überraschungen mehr, ich sorge lieber selbst für welche! – Das heißt aber nicht, dass ich für Überraschungen sorgen muss, du verstehst! Ein Tag ohne Überraschungen, das ist wie die Arbeit an einem Buddelschiff! Versteh mal richtig! Man weiß ganz genau, wo jedes Teil hinkommt und wie alles am Schluss auszusehen hat. Es ist nur eine Frage der Geduld, der eigenen Geduld. Zu jedem Zeitpunkt weiß man, was man getan hat und was man noch zu tun hat. Das Einklemmen der letzten Fäden zwischen Flaschenrand und Korken, das Abschneiden der Fäden und das Versiegeln, das wird immer gelingen. – Auch wenn man noch soviel Angst hat, die einem die Eier bis zum Hals schiebt, es gibt immer einen überraschungsfreien Moment von kompletter Leere im Kopf. Und das ist für viele ein Alptraum, weil er wie eine Flaute wirkt. – Vorerst für immer!«
»Von der Flaute muss man sich fernhalten«, sagte Robert, der nicht verstand, was Opernsänger von ihm wollte. Er sah sich nach uraltem Richard um, der noch sechs, sieben Männer vor sich hatte. Robert drehte sich wieder seinem Kollegen an der Back zu und sagte: »Ich meine, das wussten die Seeleute schon seit Anbeginn! Die Flaute tötet mehr als alle Stürme zusammen. Sie hungert aus. Da liegt das Schiff inmitten der Flaute, nur hundert Kilometer weiter ist Land, aber die Männer an Bord verrecken in der Hand der Flaute. Darüber müssen wir nicht groß reden! Wir haben es ja beim letzten Törn erlebt. Zum Glück fahren wir nicht mehr unter Segeln! Zum Glück ist wenigstens diese Zeit vorbei. Die Flaute in Verbindung mit der See, der alte Schwätzer da drüben würde sagen, das ist zu viel der weiblichen Macht. Selbst für den wildesten Orkan.«
»Ja, ja, und wieder würde niemand wissen, was der alte Sack damit genau meint!«, sagte Opernsänger .
»Wie bei dir!«, sagte Robert: »Deswegen hab ich dich ja dran erinnert: Du redest Stuss!«
Er machte uraltem Richard Platz, der die drei Gläser auf die Back stellte und wenig später sein Glas erhob: »Prost, ihr Säcke!«
»Prost, du Sack!«
Um zehn Uhr morgens an Bord gekommen, hatten sie bis zum Ausschankschluss durchgetrunken. Sie hatten einander viel Wahres gesagt, und sie hatten vieles wieder vergessen, aber Robert Rösch war nicht mit der Sprache herausgerückt, was ihn so sehr beschäftige.
Er hatte ein paar Mal abwehrend gewunken und gemeint, er werde es später schon sagen. Wenn er sich selbst im Klaren sei, werde er sich erklären. Ein Mann sei ein Mann, weil er Entscheidungen alleine treffe! Doch weil Opernsänger partout nicht warten wollte, hatte Robert das Gespräch schließlich auf die vergessene Doryfischerei gebracht.
Sofort war uralter Richard während der letzten Runde hellhörig geworden und prahlte nun mit einem berühmten Schriftstellers dieser Tage, der sein Freund geworden sei. Ein Handgriff und schon lag das zerlesene Taschenbuch auf der Back. Sie starrten alle drei auf den zerfledderten Umschlag: Ein im Packeis gefangener Trawler, über dem sich grünlichblau ein Himmel zeigte, wie sie ihn selbst schon so oft gesehen hatten.
»›Fänger und Gefangene‹, das ist doch mal ein Titel, oder?«, fragte uralter Richard zur Einstimmung, wartete aber nicht auf eine Antwort. Er schlug das Buch zielsicher auf und war schon beim Vorlesen. Wenig später gab Opernsänger es auf, Robert zu löchern. Er nickte bei der leise lesenden Stimme des Alten ein.
»Jahrhundertelang fuhren Segelmutterschiffe mit spanischen, französischen oder portugiesischen Fischern über den Atlantik. Geladen hatten sie, außer den Fischern und ihren kleinen Dorybooten, einhundertfünfzig bis fünfhundert Tonnen Salz, stinkende Schnecken und Muschelköder, Dörrfleisch, Zwieback, Schwarzbrot, Sauerkraut und Branntwein. Am Fangplatz vor Neufundland wurden die Fischer mit ihren Booten ausgesetzt. Sie ruderten bis zu zehn Seemeilen, um ihre Grundangeln auszulegen. Am Tag darauf mussten sie fünfzig Angelschnüre, manche waren dreitausend Meter lang, wieder einholen, und wenn sie etwas Glück hatten, hing an jedem Haken ein Kabeljau und sie konnten zurückrudern. Kam jedoch Sturm auf oder legte sich der Nebel über das Meer, erreichten viele das Mutterschiff nicht mehr. Manche Doryfischer trieben fünf Tage oder länger auf dem Atlantik, bevor sie erfroren oder verhungerten.
Den französischen Doryfischern schickte die ›Société des Œuvres de Mer‹
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