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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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neunzehnhundertfünfundzwanzig das Kirchenschiff ›St. Yves‹ vor die kanadische Küste. Auf diesem Schiff, auf dem gebetet und geheilt werden sollte, fuhr auch Pater Yvon vom Franziskanerorden, der nicht nur für die toten Fischerseelen betete, sondern auch für die Lebenden schrieb: Man muss also den Mut aufbringen, die Klischees der Literaten und Journalisten beiseite zu lassen und öfter zu reden, zu reden vom Schmutz, der unmenschlichen Pflege, der elenden Entlohnung, der Grausamkeit und Härte der Arbeit, wie sie kaum in einem Zuchthaus zu finden sein dürfte.
    Die Arbeit sah so aus: Zuerst wurde der gefangene Kabeljau, manchmal viertausend Stück am Tag, auf dem Deck des Mutterschiffes unter freiem Himmel ausgenommen. Ob Schneestürme tobten oder das Thermometer unter minus zehn Grad sank, die Männer schlitzten die Fische auf, schmissen die Eingeweide ins Meer und warfen den Kabeljau in den Fischpark, eine anderthalb Meter hohe und vier Meter breite Bretterkoppel. Mitten in den tausend Fischleibern stand ein fünfzehn- oder sechzehnjähriger Anlernling, der Kopfabschneider, der Deibler genannt. Zwanzig Stunden lang – er aß in der Bretterkoppel – musste er mit einer Hand die oft zwanzig Kilogramm schweren Fische anheben und ihnen mit der anderen Hand den Kopf abschneiden.
    Ein Deibler berichtete dem Pater: Hinter meinem Rücken wurde wieder der Stock geschwungen, der armdicke Griff einer Stechstange, um nur, wie man sagt, nachzuhelfen, falls mir das Armschmalz ausgehen sollte. Arbeite oder krepiere, diese Losung ist hier das Gesetz des Handelns. Der fürchterlichste Augenblick, nicht nur für mich, sondern für alle, ist das Aufstehen. Sonst hält einen das Arbeitstempo selbst oder der Branntwein aufrecht. Aber sich weiterschleppen auf seinem Kreuzweg nach einer Ruhepause, die zur Erholung, ja auch nur zur Erneuerung der Leidensfähigkeit zu kurz war, ist entsetzlich.
    Nachdem der Deibler den Kopf abgeschnitten hatte, lösten Trancheure das Rückrat der Fische heraus und pressten die Hälften zu Fladen. Vor dem Einsalzen mussten die Fladen gewaschen werden. Das erledigten die Kinder der Fischer, manche von ihnen waren erst elf oder zwölf Jahre alt.
    Der Pater schrieb: Oft habe ich ihnen mit Tränen in den Augen zugeschaut, wie sie den Kabeljau im eisigen Meerwasser umherschwenkten, die Hände infolge von Frostbeulen zum Umfang von Boxerhandschuhen aufgequollen, vom Salzwasser verätzt, Finger und Handrücken eine einzige offene, eiternde Wunde.
    Durch eine Verladeluke wurden die Fische in den Kielraum – er war als einziger Raum auf dem Schiff geputzt und gescheuert – geschüttet, und die Einsalzer schichteten und bestreuten sie mit Salz. Nahmen sie zu viel Salz, vergilbte er und wurde zäh. Nahmen sie zu wenig, verfaulte er.
    Dann gab es kein Geld.
    Aber das Geld, die Not der Familien zu Hause, trieb die Doryfischer nach Labrador. Sie sagten: Vor Labrador gilt nur der Gewinn, da ist der Mann keinen Kabeljau wert.
    Aus Arztberichten von Doktor Desprairies, der mit Pater Yvon auf der ›St. Yves‹ fuhr: Im Juni wurden wir zu einem Fischer geholt, der am Ende seiner Kräfte war und an einer schweren Albuminurie litt. Schnelle Einlieferung in ein Spital war nötig. Doch der Kapitän erklärte: Kommt nicht in Frage, der Mann taugt ohnedies nichts mehr; falls ich diese Tage nach St. Pierre fahre – und er fuhr tatsächlich dahin –, werde ich seinen Leichenkadaver im Marineamt abliefern, der Mann ist ja nur noch als Fischköder verwendbar. Später, auf einem anderen Segler, da fanden wir einen Mann, der seit fünfzehn Tagen nichts zu sich nahm. Täglich versprach der Kapitän, den Anker zu lichten und den Kranken an Land zu schaffen. Vergeblich klagte dieser: Kein Tier würde man so leiden lassen! Wir nahmen ihn an Bord, doch starb er, ehe wir ihn an Land bringen konnten.
    Pater Yvon, der eigentlich nur beten wollte, kam zu diesem Schluss: Nie hat der Staat etwas für diese Fischer getan. Aus zwei Gründen: Der Labradorfahrer ist kein Wähler, er ist nie an Land, wenn gewählt wird. Als Nichtwähler ist der Labradorfischer für den Politiker uninteressant. Und dann: Niemand kennt das Leben an Bord eines solchen Schiffes.
    Neunzehnhundertvierunddreißig musste auch das Kirchen- und Lazarettschiff ›St. Yves‹ seine Fahrten einstellen. Und die Toten wurden wieder ohne Gebet über Bord geworfen, denn ein Doryfischer vor Labrador war weniger wert als ein Kabeljau!«, endete uralter Richard und schlug

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