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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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herangemacht habe. Die ganzen dreitausend Jahre nicht. Ein Lebenswille, der alles ausgehalten habe und alles aushalten werde, an dem man sich halten könne, von dem man sich stärken lassen könne.
    Unbesiegbar, wusste Mathilde, heute habe die Rinde dreißig Zentimeter Durchmesser, eine Dicke, die ihn selbst vor Waldbränden schütze, wusste Mathilde: Ganze Wälder brannten um ihn herum nieder, Stagg aber blieb, wo er immer gewesen war, und ließ neue Samen fallen.
    Immer wieder wurde ihm die Krone von Orkanen zerfetzt, immer wieder verlor er sie, doch nur, um an diesen Stellen neue Bäume wachsen zu lassen.
    Schließlich war aus seinem Überlebenswillen ein solch komplexes Gebilde von riesigen Bäumen entstanden, dass die Spezialisten sagten, so ein Mammutbaum sei ein ganzer Wald für sich. Unmengen von Wipfeln, die aus einem einzigen Wipfel kamen und in denen sich Moos, Orchideen, Heidelbeerbüsche, bonsaiartige Fichten, Schierling und andere Aufsitzpflanzen fanden, die auf Staggs starken Ästen alle zusammen zu Waldböden wurden. Farn wuchs dort oben so dicht, dass sich Erde ansammelte, in der Würmer lebten, Käfer, Salamander und eines Tages sicher auch Rehe. Mathilde lächelte versonnen, wusste sie doch um die wahre Entstehungsgeschichte der Erde. Sie wusste, es waren Stagg und seine Brüder gewesen, die alles anhäuften, bis es zu leben begann. Von ihm hatten die Menschen die Idee vom Turmbau. Doch hätten sie ihm nur zugehört! Sie hätten bemerkt, dass er schwieg, dass er beim Wachsen und Bauen keine Sprache benutzte, dachte Mathilde, erhob sich mit Schwung und ging zielstrebig zur Haustür, die wenig später hinter ihr ins Schloss fiel.
    Sie blieb unterm Südbalkon des Hauses stehen, das nach skandinavischer Bauart ganz aus Holz hergestellt worden war. Nicht weit von Rostock gab es ein riesiges Lager, in dem diese Fertighäuser in kilometerlangen Regalen standen. Drei Häuser übereinander, Mathilde war fassungslos gewesen, als sie diese Ordnung damals gesehen hatte.
    Diese Häuser, die man wie Bierkästen kaufen konnte, ließen sich überall aufstellen. Sie besaßen keinen Keller, dafür große Balkone an zwei Seiten. Unter dem Südbalkon ihres Hauses befand sich die Eingangstür, links daneben der Wirtschaftseingang, und unter dem Nordbalkon war der Wintergarten, an den sich die große Terrasse anschloss, die mit einer Markise schattig gehalten werden konnte, reichte der Hausschatten doch nicht bis zur Terrassenbrüstung, hinter der sich ein Stück Rasen befand, das sich bis zur Hecke erstreckte, hinter der sich der Küstenpfad vorbeischlängelte, über den sommers wie winters Unmengen Touristen von Warnemünde nach Heiligendamm wanderten oder Fahrrad fuhren. Abends kamen sie dann von Heiligendamm nach Warnemünde zurück, laut und von der Ostseeluft euphorisiert.
    Die einundvierzigjährige Mathilde hatte sich daran gewöhnt, von den Urlaubern gemustert und beneidet zu werden. Sie saß meist auf dem Balkon über dem Wintergarten, von dem aus sie einen uneingeschränkten Blick über die Ostsee hatte, fiel doch die Steilküste keine fünfzig Meter hinter der Hecke ab. Vom Sandstrand mit seinen Urlaubern hörte sie auch im Sommer nie etwas, und meistens ging sie früh morgens hinunter, um sich zwischen den Wellenbrechern für ein paar Runden in die Fluten zu stürzen. Bis weit in den Oktober konnte sie das tun, weil die Ostsee sich nur langsam abkühlte. Die Ostsee, die gemeinhin auch die Milde genannt wurde. Hier gab es keine Gezeiten, und nur vor dem Ostwind musste man sich im Winter in Acht nehmen, der direkt aus Sibirien kam.
    Oft wurde ihr Haus bewundert, dabei war es doch lediglich ein Fertigteilhaus mit siebzig Jahren Garantie. Siebzig Jahre, das war für Robert und für sie vor fünf Jahren lange genug gewesen. Wozu sollte man heute noch Häuser Stein auf Stein bauen? Es gab doch kaum noch Familien, die sich erlauben konnten, über Generationen hinweg an einem Fleck zu bleiben. Heimat war doch schon längst zu einem Luxusartikel geworden. Und somit auch die Freiheit. Befanden sich in Westeuropa nicht schon alle Menschen in der Sklaverei des Hin und Her und der Heimatlosigkeit? Mathilde meinte, heute wisse doch niemand mehr, wo er in fünf oder sechs Jahren arbeiten werde, geschweige denn, in welchem Beruf. Mobile Telefone, das Spektakel des Internets und transportierbare Häuser, daraus bestehe die Heimat von morgen. Eroberungskriege fänden heute ganz im Privaten statt.
    Sie schloss die Haustür zu,

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