Letzte Fischer
ging zur Garage, hinter der sich der Kindergarten befand, in dem früher einmal einer der Kapitäne der Fischereiflotte der DDR gelebt hatte.
Dieses Haus war noch Stein auf Stein gebaut worden. Seit hundert Jahren hielt es hier auf der Steilküste den Stürmen stand. Lange Zeit war es das nördlichste Haus des Ortes gewesen, ehe weiter westlich das Hotel gebaut worden war. Das Haus war noch da, aber wo waren seine Bewohner geblieben? Mathilde warf einen Blick zum Dach, auf den krummen First, ehe sie zum Spielplatz des Kindergartens sah, der jetzt leer und verlassen war. Was mochte nur mit diesem dicklichen Jungen los sein, der sie ständig vom Zaun aus anstarrte? Was sah er in ihr? Eine Verbündete? Gegen wen?
Mathilde ging in die Garage, fuhr mit dem Peugeot rückwärts heraus und setzte auf die Straße, ohne das Tor zum Grundstück zu schließen. Sie hielt dicht neben dem Briefkasten, zog die Klappe auf, fand aber nur Gratiszeitungen, die sie im Kasten ließ.
Wenig später fuhr sie durch das neue Viertel des alten Fischerdorfes, das das Weiße genannt wurde, weil sich hier überall Holzhäuser in Fertigteilbauweise fanden, allesamt geweißt mit derselben weißen Farbe.
Viele Ferienhäuser standen hier, deren Besitzer aus Berlin und Hamburg kamen, zum Teil recht prominente Schauspieler und Professoren, die hier niemand vermutete. Mathilde lächelte, als sie sich erinnerte, wie eines Tages ein sehr berühmter Schauspieler bei ihr geklingelt und sie gefragt hatte, ob ihr Haus zu verkaufen sei.
Sie hatte nicht sofort verneint. Sie hatte mit diesem schönen und erfolgreichen Frauenschwarm erst einmal gemütlich eine Tasse Tee getrunken. Als Sky du Mont dann merkte, dass sie ihn nur hinhielt, war er verärgert abgezogen.
Gleich war sie wieder gefordert. Viermal in der Woche gab sie für Schüler der Altersklassen neun bis siebzehn Nachhilfeunterricht in Deutsch, Englisch und Mathematik – die Direktorin schien froh, mit Mathilde eine Frau gewonnen zu haben, die diese Fächer einmal studiert habe und der es heute finanziell so gut gehe, kein Honorar verlangen zu müssen. Das sei selten in dieser Gegend, in der zwar überall teure Häuser gebaut aber wohl noch nicht abbezahlt worden seien, die Schulleitung baue auf sie, denn sie habe Erfolge vorzuweisen.
Seit sie abends und nachmittags Nachhilfestunden gab, kamen viel mehr Schüler besser durch den Unterricht. Bestimmt lag das auch daran, dass sie keine Unterschiede machte. Da saßen die Jungs der arbeitslosen Eltern aus dem Neubauviertel neben den Mädchen der Beamten und Angestellten. Sie hatte gleich in der ersten Stunde zu den Kindern gesagt, kein Kind der Welt könne etwas für seine Eltern. Ein Kind habe selten Schuld, es sei ja ein Kind.
Pädagogisch nicht besonders wertvoll, Mathilde wusste es selbst, aber seitdem mochten die Kinder sie und hielten sie für eine Freundin. Sie glaubten ihr, und das war für den Unterricht selbst eine gute Voraussetzung.
Sie ging in den Klassenraum und holte die Stühle wieder von den Tischen, die das Reinigungspersonal kurz zuvor hochgestellt hatte. Der Boden war noch feucht, Mathilde öffnete das Fenster und wischte die Tafel noch einmal ab, obwohl sie sauber war. Sie reinigte sie langsam, zog sorgsam einen dicken, nassen Strich neben den anderen und freute sich wenig später, als nach dem Trocknen nicht ein einziger Striemen zu sehen war.
Die ersten Kinder kamen herein, grüßten sie stumm, behielten die Ohrstöpsel an, lauschten der Musik, während sie die Schulsachen auspackten und sich Saft eingossen. Die Kinder wirkten müde, fand Mathilde, besonders die Jungs erschienen ihr wieder einmal völlig erschöpft.
Auch sie hatte langsam ihre Zweifel. War dieses Schulsystem nicht falsch für Jungs? Lernten die nicht viel besser, während sie in Bewegung waren? Ging dieses ganze Gerede von der Förderung der Mädchen nicht auf Kosten gerade der Söhne?
Mädchen lernten besser durch Erkenntnis, Jungen aber durch Erfahrung. Warum das niemand begriff?
Wem fremdes Wissen aufbereitet wurde, der kam zum Erkennen, indem er das Fremde durchs Wiederholen zum Eigenen machte, Erfahrungen aber konnten nur durch Probieren und Anwenden des Wissens gemacht werden, doch wo war das noch möglich? Die Jungs schalteten ab, versuchten sich im Wiederholen, was ihnen aber als Nachplappern ausgelegt wurde. Stupide lernten sie auswendig und sprachen im Unterricht bald nur noch nach deutlichen Aufforderungen. Mathilde ließ den Blick auf einem
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