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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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vereinigen sich in einer Umarmung und haben dabei die Gesichter einander zugewandt; wie bei uns Menschen! Und wie bei den Libellen natürlich. Die Wale schlagen rhythmisch ihre riesigen Schwanzflossen und steigen dann auf! Bis ihre gewaltigen Häupter, Gesicht an Gesicht, aus dem Wasser ragen. Sie halten sich mit den langen Brustflossen fest umschlungen. Sehr fest!«
    »So fest?«
    »Noch viel fester! Ja, so, genau so fest! – Die Akkordeonfalten ihrer gefurchten Bäuche sind verwoben, ihre Schwanzflossen schlagen den gleichen Takt, ihre Körper pressen sich fest und fester aneinander, so steigen sie schließlich auf. Aus den Untiefen der See. Sie durchstoßen die Wasseroberfläche, kommen aus den schimmernden grünen Schatten der Tiefe ins helle Leuchten des blauen Himmels. Mit einem einzigen letzten Schwung, unter dem mächtigen Taktschlag der Schwanzflossen fünfzehn Meter unter ihnen, schnellen sie aus dem Meer und sind für Sekunden frei in der Luft. Zusammen im Orgasmus! Auch sie, wie deine Libellen, ficken beim Fliegen oder fliegen beim Ficken, leben jedenfalls den Menschheitstraum! – Wasserfälle, die von ihrer Haut stürzen, so schweben die Wale für Sekunden in fester Umarmung und erleben gemeinsam einen gewaltigen Höhepunkt der Lust! In der Luft!«
    »Wahnsinn!«
    Doppelbläser lächelte, während er fortfuhr, zärtlich zu flüstern: »Das Meer selbst bäumt sich dabei auf und schwappt gewaltig, weil das Liebespaar es so aus der Fassung gebracht hat. Es reißt alles im nahen Umkreis unwiderstehlich mit sich. Das Meer feiert die Vereinigung der mächtigsten Tiere. – Die aber tauchen nach dem Höhepunkt ab. Nach einem Salto tauchen sie eine Meile tief hinab. Sie verlangsamen den Herzschlag, sie pressen die Lungen zusammen, sie falten die Rippen an bestimmten Gelenken, sie wirken so dem Tiefenrausch entgegen, sie gleiten fröhlich durch fünfhundert Bar Atmosphärendruck. Unten auf dem Meeresgrund lastet eine Viertelmillion Tonnen dichtes Wasser auf ihren Leibern, doch es stört sie kaum, sie schwelgen noch im Erinnern an den luftigen Fick. Sie schwelgen eine halbe Stunde lang, manche auch eine ganze, ehe sie wieder auftauchen und triumphierend eine riesige Blaswolke absetzen, begleitet von einem Seufzer, der um die Welt geht. Nur zwei Sekunden dauert der Ausstoß aus den Spritzlöchern. Federbüschel warmen Nebels, gute sechs Meter hoch, kochen aus den Blaslöchern und stehen als gigantische Ausrufezeichen mitten im leuchtenden Azur. Das Geräusch, das um die Seewelt geht, verdrängt gewaltsam die Luft. Ein Seufzer, der wie ein Donner klingt! – Dann aber atmen sie ein. Und wenn die Luft dann langsam in die langen, verschlungenen Korridore ihrer Körper dringt, dann klingt es wie ein widerhallender Glockenschlag, der erst nach vielfachem Echo leiser wird und leise. Bis alles wieder still ist. So schwimmen sie fort, erfüllt von der Magie des Ortes, der für die Wale heilig ist.«
    »Die Eskimos sagen, sie mögen die Art, wie die Wale denken, und es tue gut, an einen Wal zu denken«, sagte Luise und umschlang Tommys schlanken Leib. Sie legte ein Bein auf seine Schenkel, küsste ihm das Gesicht und flüsterte: »Libelle und Wal.«
    »Libelle und Wal!«, sagte Tommy ernst: »Auf immer und ewig!«
    »Auf immer und ewig«, sagte Luise.
    Nach einem langen Schweigen fragte sie ihn, wie er gelernt habe, so gut zu erzählen.
    »Wie?«, fragte Doppelbläser und dachte nach, ehe er sagte. »Als ich Halbwaise wurde und meine Schwester verlor, als mein Vater noch ein halbes Jahr zur See fahren musste, da habe ich angefangen zu erzählen. Zuerst nur ausgedachte Sachen, halbe Lügen, eben die Phantasie habe ich aufgebracht, um mich wegzureden, weg vom Tod meiner Mutter, weg von der Umgebung, weg vom Hintergrund, der einen nie in Ruhe lässt. Einige trauern mit Schlägen, andere mit Reden, denke ich mir.«
    »Du meinst, das Reden war deine Rettung? Das Sprechen und Sagen und Kommunizieren?«
    »Nein, das Erzählen! Es war das Erzählen, das mich gerettet hat. Erzähler brauchen ja nicht unbedingt Zuhörer. Ehrlich gesagt bist du der erste Mensch, dem ich etwas erzähle. Sonst habe ich immer irgendwo Geschichten erzählt, wo ich gerade war, Hauptsache, ich war dort allein. Erzählen ist Ausscheren, ist frei sein ohne Freiheit. Ist Flucht.«
    »Bei meiner Ausbildung habe ich gelernt, wenn man ein Entführungsopfer geworden ist, wenn man in Gefangenschaft geraten ist, dann soll man unbedingt eine Beziehung zum

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