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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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stöhnte mit unterdrückter Stimme, sobald er eine der vielen Wunden berührte. Er bemühte sich, die Wunden so sanft wie möglich zu reinigen. Am Oberschenkel hatte sie einen Schnitt, der bis zum Knochen ging. Vorsichtig hob er den Fleischlappen, reinigte die Ränder der Wunde und drückte ihn schnell wieder zurück. Sie stöhnte herzzerreißend. Auf dem Rücken war eine Wunde, die von einem Widerhaken stammte. Der Enterhaken war ihr ins Schulterblatt gehauen worden. Ein handtellergroßer Fetzen Fleisch fehlte. Hier war nichts zum Zurückklappen oder zum Draufdrücken. Am meisten aber bereitete ihm der abgerissene Zeh an ihrem linken Fuß Sorge. Der Stumpf des großen Zehs, den hatte er nicht verbinden können. Blutrot war der viele Mull, immer wieder blutrot. Er seufzte und streichelte die verklebte Stirn. Sie fixierte den Masttop, wohl um sich abzulenken und sich wegzutragen vom Schmerz. Er nahm die Flasche Whisky und goss ihn ihr in den Mund. Viel, sehr viel. Er sagte, er werde sie auf keinen Fall dem Wundbrand überlassen, sie habe schließlich die Schlange von Afrika besiegt und ihre Eltern gerettet.‹
    ›Lektion eins für angehende Kriegsärzte: Wundbrand ist heilbar durch sofortige Amputation.‹
    ›Doch nicht für einen Seemann. Die Ehre eines Seemanns, sich erst von der See geschlagen zu geben, wenn die Planken zerfetzt auf der Wasseroberfläche treiben. Das Schiff ist nicht aufzugeben. Der Mann neben dir ist nicht aufzugeben. Nicht aufzugeben, das ist die Ehre des Seemanns. Schließlich gibt ja auch die See niemals auf. Nie! Niemals.‹
    ›Es sind die Engländer, die in ihrer Volksdichtung vom Beowulf schon gefordert hatten: Teile die Beute, wenn du die Macht behalten willst.‹
    ›Die Westliche Geisterlibelle jedenfalls wurde erst neunzehnhunderteinundneunzig auf Kreta entdeckt. Es gibt sie nur auf dieser Insel, nirgendwo anders. Wir sind also bald am Ziel‹, orakelte ein Mädchengesicht, das zwei lange Zöpfe hatte. Tommy sah es sich drehen, ehe es im Dunkeln verschwand, das erst schwarz wurde, dann aber weiß, weißgrell.
    Tommy schlief unruhig und wusste erst nicht, wo er sich befand, als Luise das Kojenlicht einschaltete und über seine schweißnasse Stirn wischte.
    »Du hast mich geschlagen«, sagte sie.
    Er hörte sich keuchen.
    »Entschuldige! Ich habe geträumt, ich hätte dich gerettet! – Aber nein, nicht gerettet, gepflegt! Du lagst schwer verwundet auf einer Yacht, und ich habe deine Wunden gepflegt und dir viel Whisky eingeflößt«, sagte Tommy.
    Sein Herz hämmerte gegen die Rippen, und es kam ihm vor, als halle das Geräusch in seinem Schädel wider: »Ich muss mal raus! Entschuldige, ich muss jetzt mal raus hier.«
    »Gut, ich komme mit«, sagte Luise.
    »Nein, nein, lass mich mal. Nur eine Stunde, ja? Sei nicht sauer, bitte«, sagte Doppelbläser , kletterte aus der oberen Koje und zog sich ein paar Sachen über.
    Er lächelte Luise an, sie nickte stumm und legte sich wieder auf den Rücken.
    Thomas warf sich auf die Seite, als Tommy das Schott von außen schloss. Doppelbläser ging durch den Längsgang, stieg innenbords den Niedergang zur Brücke hoch, klopfte und sagte: »Auf die Brücke!«
    Der Steuernde sah sich um und sagte gutmütig: »Ach, das Küken mit dem Hahnenschwanz !«
    »Ich will mal in die Rimbaudnische , ja?«
    »Klar, hol das Schott dicht! Ich sag, ist besetzt!«
    Tommy schwirrten noch immer Gesprächsfetzen durch den Kopf, die er geträumt hatte. Er verschloss die Tür und ließ sich stöhnend auf das Sofa fallen. Was für Träumereien! So viel Unsinn auf einem Haufen. Was sollte das nur? Wirres Gequatsche! Er hatte das Gesicht seiner toten Mutter gesehen. Es war alt gewesen, es war das Gesicht einer uralten Frau gewesen. Er solle vorsichtig sein, hatte die hohe Stimme gemeint, er schwebe in Lebensgefahr. Ihr Junge solle sich vor dem Oberdeck hüten. Er solle im Bauch des Schiffes bleiben, bis das Schiff anlege.
    Aber warum?
    Träume antworteten nie. Sie setzten nur immer Möglichkeiten in die Welt, die doch alle nicht nötig waren. Der Junge runzelte die Stirn; noch nie habe er in Worten geträumt. Er stand auf und stellte sich vor die Bordhymne, deren Text der junge Arthur Rimbaud aus Frankreich einst verfasst hatte. Tommy las zwar, konnte sich aber mit den Strophen nicht ablenken. War es Angst? Er glaubte seiner Mutter, natürlich glaubte er ihr, auch wenn sie tot war.
    War es nicht eine große Gefahr, wenn sie ihm im Traum erschien? Aber was sollte denn da

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