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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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doch kein so guter Redner und Erzähler? Wenn ihm die Zuhörer wegliefen, für die er doch die Mühen auf sich nehmen wollte, was war denn dann groß gewonnen?
    Er dachte an den Satz eines Mannes, der mit einem dünnen Buch über einen Riesenfisch weltberühmt geworden war: ›Ein Roman kann einem schon ein paar Lebensjahre versauen.‹
    Doppelbläser nickte und drehte das Gesicht wieder in den Wind. Was soll’s? Nichts soll’s!
    Die Sonne stand zwei Fingerbreit über dem Horizont, als ein durchdringendes Geräusch aus der See emporstieg. Tommy lächelte und hörte der Musik zu, als sich Luise neben ihn stellte und nervös fragte, was das für ein Krach sei?
    Tommy legte den Arm um sie und sagte: »Wenn vor hundert Jahren solche Töne die hölzernen Laderäume durchweht haben, dann hatten die Fahrensleute geglaubt, auf dem Schiff spuke es.«
    »Und? Was ist es wirklich? Es klingt bedrohlich, dann wieder anmutig; fast wie Musik.«
    »Es ist eine Musik, meine Liebste. Da singen Wale!«
    »Ach! – Wirklich?«
    »Aber ja. Lyrische Litaneien, gespeist aus mündlich überlieferten Unterwassersongs, abgerufen von einer lebenden Datenbank aus Erinnerung, gegründet vor über fünfzig Millionen Jahren. Dieses Netz umspannt den Globus! – Vielleicht unterhalten sich gerade jetzt der Schöpfer und das Geschöpfte, Gott und Natur, nicht mit den Hirnen der Menschen, sondern mit den Hirnen der Wale? – Die Wale haben verschiedene Dialekte, verschiedene Themen, verschiedene Kombinationen von Noten, Sequenzen, Phrasen, Subphrasen. Sie singen mit unterschiedlichen Kadenzen und Modulationen, um unterschiedliche Botschaften zu senden. Sie haben verschiedene Lieder! Tag um Tag, Jahr um Jahr, entwickeln sie ihre Lieder weiter, wie wir unsere Reden. Ihr Wissen verfügt über Millionen von für uns geheimnisvollen Tönen. Die Wale lernten und lernen sie auswendig, sie entwickeln sich, wie wir, fort! Von Generation zu Generation werden die fortentwickelten Lieder weitergegeben. Im Gedächtnis gespeichert. Ihr ganzer Körper, jeder Knochen, jede Membrane, jeder Hohlraum, schwingt mit und ist Teil eines gewaltigen Ohres. Walfamilien, Walstämme, alle haben eigene Gesänge und können sich so unterscheiden! Eine Lautsprache in Bildern. Lebendige Schwingungen, die sich im Wasser fünfmal schneller als der Schall in der Luft ausbreiten. Wale können so komplexe Gefühle weitergeben, kulturelle Einzelheiten, Geschichten, Neuigkeiten; ein einzelner Buckelwal veranstaltet manchmal ein Solokonzert, das mehrere Tage dauert! Vielleicht hören wir gerade eines? Doch selbst wenn er nur eine halbe Stunde singt, dann ist es trotzdem ein Lied mit hundert Millionen Bytes! Eine Million Frequenzwechsel! Eine Million tonale Variationen! Eine Odyssee aus prachtvollen Informationen, fünfzig Millionen Jahre alt, die in knapp dreißig Minuten vorgetragen wird. Unvorstellbar, was wir gerade an Wissen hören, uraltem Wissen! Berichte von Naturgewalten. Gemeinsam Erfahrenes. Walträume! Ein einziges Raunen von ausgestorbenen Urahnen. Ja, meine Liebste, das hören wir jetzt gerade!«
    Luise nickte, während Tommy weiterredete: »Die Finnwale halten in der Nähe ihrer Brutlagunen zum Beispiel Meetings ab. Sie gruppieren sich wie in einem Stadion im Kreis. Sie stehen senkrecht, ein Drittel des Leibes ragt aus dem Wasser. Ihre Fluke peitscht rhythmisch, so atmen sie im gleichen Takt! Sie sprechen in Ultraschall, dann wieder schweigen sie lange, als träumten sie gemeinsam. So stehen sie da, unheimliche, lebendige Steinsäulen, die Informationen in höchster Auflösung austauschen.«
    »Und das hören wir gerade?«
    »Nein, es ist ja nur eine Stimme. Eine Walstimme. Vielleicht sucht der Wal etwas? Wale bewegen sich in einem Ozean von Tönen. Garnelen knacken, Plankton zischt, Fische quaken, würgen, trommeln ihre Schwimmblasen, und so werden sie alle vom Wal mit einem Echolot geortet! Als eine sanfte akustische Massage, die die Walhaut berührt. Mit diesem Lot können sie sogar den Mageninhalt anderer Wale bestimmen. Sie können den Blutkreislauf des anderen verfolgen. Sie können das näherkommende Gehirn abschätzen. Sie können Frequenzen verändern, Schallwellen verlängern und verkürzen, bis die akustische Zentrale die gewünschte Information empfängt. Aufgesammelt von der Haut. Luise, verstehst du? So kann ein Wal einem anderen Wal nichts vormachen. Sie können sich nicht anlügen, weil sie sich zwar nicht durchschauen, sich aber durchhören!«
    »Wie meinst

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