Letzte Fischer
sind. Niemals, hörst du, Mathilde, niemals darf man dem Meer Gehör schenken, wenn man fällt. Komm! Alles ist ein Steigen im Fallen.«
Mathilde nickte, schmiegte sich in den Arm des alten Mannes und merkte plötzlich, wie erschöpft sie war.
Und durchgefroren. Sie zitterte ja!
»Ich habe nur keinen Pfefferminztee mehr«, flüsterte sie und spürte den festen Griff des Alten am Oberarm: »Nur Mut! Nur Mut, Mathilde, nur Mut!«
»Robert hat den ganzen Pfefferminztee mitgenommen. Die ganze Ration, weil sie doch an Bord nur Schwarzen Tee haben und der doch auf Dauer nicht gut fürs Herz ist.«
»Schon gut«, sagte der Kapitän a.D., steckte die freie Hand in die Tasche, drückte mit dem Daumen auf dem Display seines Handys herum und sagte: »Ja, doch! Na klar! Gefunden! – Du, wir brauchen Pfefferminztee! – Die große Kanne!«
Der Alte steckte das Telefon wieder weg. Er wusste ja, dass die See kaum jemanden entkommen ließ, und hörte sie hinter sich höhnen. Er drehte sich nicht um, schob Mathilde die Stufen hoch und dachte: ›Ich komme zwar nicht los von dir, wie alle, die dich überlebt haben, bin ich verdammt, auf immer seesüchtig zu sein, aber diese Frau hier, die bekommst du nicht! – Halt die Fresse!‹
»Erster Kuss, zweiter Frühling, dritte Zähne, das ist die Banalität der Liebe«, sagte Mathilde zu Stagg , nachdem ihr in der Nacht erneut die Tränen gekommen waren: »Ich dachte, ich könnte das alles doch noch erleben.«
Erneut versuchte sie, Luise anzurufen, aber wieder schaltete sich nur die Mobilbox ein. Sie hatte auch schon den Leitstand des Walfängers Rimbaud angerufen, aber der Funker hatte ihr nur erklärt, es sei Fangsaison, jetzt werde kein einziges Privatgespräch durchgestellt. Und wenn es sich sogar um einen Todesfall handeln solle, jetzt werde erst einmal Geld gescheffelt. Da hatte Mathilde sprachlos aufgelegt.
›Immerhin‹, dachte sie, ›gibt es die Rimbaud noch.‹
Sie saß am runden Küchentisch, sah durch die Jalousienlamellen die Kinder im Garten des Kindergartens spielen – wie immer hielt sich der dickliche Junge abseits – und hörte, wie sich der Wasserkocher abschaltete. Mathilde blieb sitzen, unendlich froh, dass es da einen klugen Menschen gegeben hatte, der den Abschaltmechanismus erfunden hatte. Was sollte sie denn schon wieder Kaffee trinken? Wozu denn? Wozu das alles?
Es klingelte schon wieder an der Haustür. Diesmal jedoch stand die Hausherrin auf und ging langsam zur Tür.
»Ach, Frau Rösch, endlich erwische ich Sie mal«, sagte der Blumenbote, den sie von der Nachhilfe kannte. Er wirkte unsicher und wollte seine Unsicherheit mit einem breiten Lächeln überspielen. Wie diese jungen Augen doch leuchteten! Mathilde senkte den Blick. Wäre doch Luise jetzt nur hier.
»Ich habe da sieben Blumenarbeiten für Sie.«
»Warum sagst du nicht Kränze? Beerdigungskränze?«
»Ich weiß nicht. Sehen doch fast gar nicht mehr wie Kränze aus, so schön.«
Da hatte der Junge wohl Recht. Nicht einmal Kränze sahen mehr wie Kränze aus. Bunt, viel zu bunt. Und gar kein Immergrün!
»Ja, ich bräuchte dann sieben Unterschriften auf dem Display hier, Frau Rösch. Es tut mir leid, mit Ihrem Mann. Soll ich die Blumen vielleicht ins Haus tragen?«
»Was?«, fragte Mathilde, während sie die Unterschriften setzte: »Nein, danke. Gib schon her, Matthias.«
Sie sah dem Jungen zu, wie er die Heckklappe herunterschlug, den Helm aufsetzte und den Roller elektronisch zündete. Mit einem Schwung aus den Schenkeln gab er zusätzlich Anfahrgeschwindigkeit und tuckerte vom Hof.
Zurück blieb sie. Mit Kränzen im Arm. Fast hätte sie vergessen, die Haustür zuzuschlagen. Mathilde ging in die Küche zurück, legte die Kränze auf den Tisch und zog die Beileidskarten heraus. Mit ihnen setzte sie sich auf die weiße Ledercouch des großen, leeren Wohnzimmers. Sie sah zum Bild von Stagg , dann zum Apfelsinenbäumchen, das sie heute noch aus dem Topf nehmen und in den Garten pflanzen wollte. Die erste Karte war von der Reederei aus Portugal. Ein sehr schlechtes Deutsch. Die zweite war vom Bürgermeister. Nicht einmal persönlich unterschrieben. Die dritte war von der Direktorin der Schule. Sehr aufrichtig. Die vierte von der Leiterin des Lerncamps. Sie habe es aus der Zeitung erfahren. Ja, nicht nur sie! Die fünfte war vom ›Verein der Seemannsfrauen‹. Sie solle doch einmal zu einem Treffen kommen. Bei der sechsten zitterten ihr die Hände. Sie ließ die sechste Karte fallen
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