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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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einer Witwe«, flüsterte sie: »Und das ist der gequälte Atem einer jungen Witwe. Einer frischen Witwe. Einer jungen und frischen Witwe. – Einer Witwe ohne Grab.«
    Was hatte Witwentum ohne Grab schon für einen Wert? Doch wohl keinen großen. Ein paar Pennys. Ein paar Dollar. ›Für eine Handvoll Dollar‹, das war Roberts Lieblingsfilm gewesen. Das musste sie sich merken, das durfte sie niemals vergessen. Mathilde schlug mit den flachen Händen gegen den Stein und flüsterte: »Lieblingsfilm: ›Für eine Handvoll Dollar‹.«
    Dann hatte sie die rettende Idee, als sie einen Stern verschwinden sah, einen Stern, der sich bewegte. Ganz sicher! Er bewegte sich, und er hatte sogar Farben an den Flanken: ein leuchtendes Grün und ein schönes Rot! So ein herrlicher Stern! Mathilde löste sich vom Findling und suchte Steine zusammen. Sie legte sie neben den Findling auf einen Haufen, der immer größer wurde. Sie musste lange suchen, sie musste hart arbeiten, sie musste immer weitere Wege zurücklegen, sie musste Pausen einlegen, doch schließlich war der Steinhaufen halb so hoch wie der Findling und doppelt so breit. Eine schiefe Angelegenheit zwar, sicherlich, aber ›Mut‹ war nun mal der zweite Vorname des Erfolges. Der erste war ›viel‹.
    Sie wagte den ersten Schritt, die Steine bewegten sich, schoben sich zusammen, Mathilde kniete mit einem Bein auf ihnen, und sie erinnerte sich an den einzigen gemeinsamen Ausflug in die Alpen. Damals hatte sie Robert alleinlassen wollen, doch er hatte es nicht zugelassen. Damals war sie vom Kamm der Großen Klammspitz gerutscht, immer tiefer, immer schneller, weil sie sich nicht festgehalten hatte. Weil sie damals hatte fallen wollen, doch heute wollte sie nach oben. Und sie wollte oben bleiben. Sie wollte auf dem Findling sitzen, im Schneidersitz. Mathilde hob das andere Knie, der Steinhaufen begann zu rutschen. Er fiel auseinander, obwohl er doch zusammensackte. Aber war sie nicht eine Tochter der Bayerischen Berge? Mit kühnen Tritten erklomm sie schnell den Haufen, umklammerte den Rand des Steins und zog sich hoch, hielt sich fest, als die Steine unter ihr wegrollten, und sie erklomm mit einer letzten Anstrengung das abgeplattete Ende des Findlings. Sie war oben, auf dem winzigen Plateau! Wenig später saß sie im Schneidersitz, keuchte, drückte den Rücken durch und legte sich die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Schenkel. So blieb sie sitzen.
    So fand das Meer sie, als der Wind ihm die Oberfläche genug gekrault hatte. Der Alte schlief ein, das palavernde Meer aber kam der Trauernden zu Füßen, und Mathilde hörte es höhnen: Manntje, manntje, Timpe te! – Buttje, buttje in der See!
    Mathilde hörte das Echo und senkte den Kopf.
    Aber wie sollte die See es ernst meinen können, wenn sie gar nicht zuhören konnte? Wenn die See immer nur am Nuscheln war?
    Die See konnte immer nur schwafeln, und das Ufer war ein verlorener Ort zwischen Land und Meer; unwirklich, verharrte man hier, wurde man selbst unwirklich.
    Mathilde rieb sich die Schenkel, wippte mit dem Oberkörper und lauschte.
    Deshalb kamen die Trauernden doch so gern hierher. Und all die Einsamen, die von ihrer Trauer nichts wussten; rein gar nichts.
    Mathilde hob die Hände, drückte sie gegen die Ohren, verbat sich das Rauschen, das Säuseln, das Lamentieren, aber sie hörte deutlich: Meine Frau, die Ilsebill – will nicht so, wie ich wohl will! – Ha, ha, ha, ha. Ha, ha, ha, ha.
    Mathilde sah sich im hellen Dunkel um. Sie war allein, kein Zweifel! Und bis auf das Meer befand sich alles im Stillstand. Bis auf das Meer und die Sterne, die matt wurden und matter.
    Ein Grau dämmerte. Könnte so ein Grau zu Licht werden? Mathilde hörte im Gefasel: Man macht keinen Deal mit dem Tod, ich weiß es, denn ich bin der Tod, dem Noah entkam, aber nicht seine Söhne! Du entkamst mir, aber nicht dein Mann. Du wolltest mich zwingen, ein Geschäft zu machen. Siehe, ich lache darüber, denn ich verschlinge die Seelen der Welt. Ich bin das Meer, und das Meer ist alles.
    »Du bist nur farblos!«, flüsterte Mathilde.
    Sie spürte den Schmerz kommen, tief aus dem Blut stieg er empor. Drückte hinter den Augen alles zusammen. Zu einem Klumpen. Vermutlich weiß, aber das konnte sie ja nur ahnen.
    Vom Soldaten und Seemann Elpenor hat dir niemand etwas erzählt. Nur Homer berichtete vom jüngsten Gefährten Odysseus und auch nur das eine: Er erwachte, als die Männer die Insel Kirke verließen, aus einem

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