Letzte Fischer
und starrte minutenlang auf die ihr so verhasste Schrift; auf die Schrift, die sie doch schon so gut wie vergessen hatte. Dieses Schwein! Sie erkannte die Schrift ihres ersten Ehemannes sofort. Wenn er etwas tun könne, würde er helfen. Er habe ihr Foto in der Zeitung gesehen, sie sei noch immer eine wunderschöne Frau. So ein Schwein!
Die letzte Beileidskarte war von einem Rechtsanwaltsbüro, das sich auf Schadenersatzklagen spezialisiert hatte. Unschlüssig hielt Mathilde sie in der Hand, zerriss sie schließlich nicht und ließ sie einfach auf den Boden fallen.
Doch was sollte sie mit den Kränzen machen? Einer Seemannswitwe schicke man keine Kränze, eine Seemannswitwe habe ja keine Grabstätte. Mathilde schüttelte den Kopf und dachte: ›Der Verein der Seemannsbräute hätte das eigentlich wissen müssen!‹
Ratlos stand sie in der Küche vor den aufgetürmten Beerdigungskränzen mit den bunten, teilweise in Fraktur bedruckten Schleifen. Sie schüttelte den Kopf.
Wieder schaltete sie den Wasserkocher ein. Und wieder schaltete er sich aus, als Mathilde noch neben ihm stand. Sie goss das Wasser in die bauchige Tasse mit dem Kaffeepulver und rührte mechanisch um. Es schien, als starre ihr der dickliche Junge durch die Jalousiespalten direkt in die Augen. Sie drehte am Stock, bis sein Gesicht hinter den Lamellen verschwand.
Mit dem Hintern lehnte sie sich gegen die Arbeitsfläche und sah wieder auf die Kränze. Wohin nur mit ihnen? Sie schlürfte vom Kaffee. Sie wollte den Exkapitän fragen. Er wisse schon einen Rat. Er habe schon so viele Seeleute sterben sehen. Hatte er das nicht selbst gesagt?
Kaum hatte sie das Radio angestellt, dröhnten ihr die Ohren: »Die Saudade wurde . . .«
Mathilde stellte das Radio sofort wieder aus, ging durch das Wohnzimmer zur Terrassentür und sah rüber zur See, ohne das schützende Heim zu verlassen. Das Meer lag ruhig da. Es schien zu warten, glaubte Mathilde. Es sei sich seiner Magie bewusst. Seiner Stärke. Die Urkraft, in Menschen eine unbestimmte Todessehnsucht zu wecken. Mathilde hatte die See durchschaut. Und froh wäre sie, wenn alle Menschen begreifen würden, was schon die Leute vor dreitausend Jahren verstanden hatten: Das Meer fraß sogar ganze Städte auf und ließ nicht einen Holzbalken übrig.
Mathilde trank noch einen Schluck und riss sich vom Anblick des endlosen Wellens los. Dieser ewige Wunsch des Lebenden, nur für einen Moment in die Todeshölle blicken zu dürfen. Diese absurde Idee, mit der man geboren werde. Das Sterben beginne mit der Geburt.
Sie ging einige Schritte auf die Terrasse, hielt sich jedoch im Schatten. Erneut sah sie eine Riesenwelle aufs Ufer zukommen, ausgelöst durch die Mittagsfähre, die in die Warnowmündung einfuhr und vor dem Leuchtturm von Warnemünde immer stark abbremsen musste. Mathilde wusste es, aber erschrocken hatte sie sich heute Nacht trotzdem, als der Kaventsmann so plötzlich vor ihr gestanden hatte. Sie massierte sich den Nacken.
Und wieder schrak sie zusammen, als sie zur Seite sah und den dicklichen Jungen erblickte, der sie fragend anstarrte.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie.
»Nun ist dein Mann doch draufgegangen, oder? Hab ich doch gesagt, stimmt doch!«, sagte der dickliche Junge, dessen gestelzten Doppelnamen sie vergessen hatte. Sie wollte ihn aber nicht noch einmal fragen. Stattdessen meinte sie: »Was du nicht sagst.«
»Na ja, wie böse der immer auf die See geguckt hat, wenn er mal da war. Hab ich doch gesehen.«
»Schon gut, schon gut!«, sagte Mathilde und musterte den Jungen, der wieder hinter dem Zaun stand, der ihr Grundstück vom Kindergarten trennte: »Bisschen verrückt bist du aber auch, oder?«
»Ein bisschen!«, sagte der Junge, lachte und sagte: »Aber ich vergesse wenigstens nichts!«
»Ist doch schon mal was«, sagte Mathilde und ließ sich erschöpft in einen der Terrassenstühle fallen, denen die Polsterungen fehlten. Sie spürte es sofort, erhob sich aber nicht noch mal.
»Ja«, sagte der Junge: »So, wie du!«
»Wie ich?«
»Du wolltest mit mir Scherenschnitte machen. Hast du aber nie, obwohl du es versprochen hast. Wie alle Erwachsenen redest auch du nur dummes Zeug.«
Warum nur ließ sie sich das gefallen? Hatte sie nicht schon genug um die Ohren? Jetzt noch ein verrücktes Kind! Aber war es nicht auch so, dass Verrückte immer Verrückte anzogen? Mathilde lächelte mit heruntergezogenen Mundwinkeln und stellte die Lehne nach hinten. Immer weiter beherrschte das
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