Letzte Fischer
Grau den Himmel.
»So, so«, sagte sie.
»Ja«, sagte der Junge: »›Schattenschnitte‹ sind ja sowieso was für Mädchen. Wollte ich gar nicht lernen.«
»›Schattenrisse‹ oder ›Scherenschnitte‹, aber ›Schattenschnitte‹ gibt es nicht. – Ich glaube, du willst es doch lernen! – Du kannst mir helfen.«
»Will ich aber gar nicht.«
»Du wirst mir jetzt helfen«, sagte Mathilde, auf einmal voller Elan. Sie stand auf, ging zur Gartentür des Kindergartens und rief die Erzieherin zu sich, die ihr Mitleid ausdrücken wollte, aber schnell schnitt Mathilde ihr das Wort ab: »Es geht um etwas anderes! Kann der Junge mir mal zur Hand gehen? Ich brauche seine Hilfe. Solange sie hier Pause im Garten machen?«
»Wir machen hier keine Pausen, weil wir keinen Unterricht haben. Die Kinder sollen einfach nur spielen. Das ist einfach Freizeit, Freizeitbeschäftigung.«
»Ach so, na ja, war nur eine Frage.«
»Aber sicher kann er Ihnen helfen. Er steht sowieso nur am Zaun und lässt Sie nicht aus den Augen. – Vielleicht ist unser kleiner Pepe verliebt?« Die Erzieherin sah den dicklichen Jungen an, der unwirsch den Kopf schüttelte.
»Hör aber auf Frau Rösch!«, sagte die Erzieherin ernst: »Sie ist Lehrerin!«
Pepe nickte und ging durchs Tor. Mathilde durchlief ein Schauder, als sich seine kleine Hand in ihre schob. Sie sagte: »Aber Pepe , das ist nicht dein richtiger Name?«
»Nur ein Spitzname. – Was soll ich denn helfen?«
»Nicht ›was‹, sondern ›wobei‹.«
»›Wobei‹?«
»Und nun im ganzen Satz.«
»Wobei soll ich helfen?«
»Sehr gut. Beim Paketauspacken.«
Sie ging mit Pepe zum Flurschrank und holte aus dem obersten Fach das Paket aus der Ukraine heraus. Der Junge war von den Briefmarken fasziniert, und Mathilde versprach ihm, er dürfe sie später mitnehmen.
Mit dem Paket in der Hand ging sie zum runden Küchentisch und sah auf die vielen Kränze. Unschlüssig stand sie da, als der Junge die Blumengebinde nahm, sie auf die Terrasse legte, und schließlich sagte er: »So, jetzt ist Platz!«
Mathilde nickte und stellte das Paket ab. Sie gab dem Jungen eine Schere und sah zu, wie er auspackte.
Auch sie war enttäuscht von den vielen Holzleisten, die zum Vorschein kamen.
Die Bauanleitung konnten sie zwar nicht lesen, aber die Abbildungen waren sehr einfach gehalten.
Ohne abzuwarten, machte Pepe sich daran, das Raster zusammenzubauen. Er brauchte nur einige Minuten, dann sah er auf das fertige Werk und fragte: »Und was kann das?«
»Damit haben die Maler früher ihre Scherenschnitte gemacht. So konnten sie den Schatten des Realen ausschneiden und ihn behalten, wenn der reale Gegenstand schon längst verschwunden war.«
»Oder wenn der Mensch gestorben war. Dann hatte man immer noch seinen Schatten«, sagte Pepe .
»Oder so. – Hol doch mal irgendeine Blume aus einem der Gebinde. – Wir stellen dann hier den Rahmen auf und spannen das Papier. Davor kommt die Blume. Und davor kommt eine Kerze. Dann gehen wir auf die andere Seite und zeichnen einfach die Umrisse ab, die auf das Papier geworfen werden. Dann schneiden wir aus, und ich habe mein Versprechen gehalten. Was meinst du?«
Pepe nickte. Er ging hinaus und kam wenig später mit einer weißen Rose wieder.
»Gleich die schwierigste Blume, was?«, meinte Mathilde und dachte an den Riesenmammutbaum Stagg , den sie so wohl doch nie auf ein Papier bringen konnte. Den echten Schattenriss konnte man nur vom wirklichen Baum anfertigen, aber so eine riesige Leinwand gab es ja nicht. Sicher, man könnte die Lichtquelle vom Baum und den Baum von der Leinwand so weit wegstellen, dass der Schatten schließlich ganz klein aufs Papier fiel, aber wie sollte das gehen? Könnte es nicht mit der Sonne funktionieren? Dann müsste sie selbst zum alten Stagg gehen, um seinen Schatten zu fangen und auszuschneiden. Es dürfte nichts zwischen ihr und ihm sein, gar nichts, am besten nur Wasser. Nein! Kein Wasser.
Mathilde kam mit einer weißen Kerze zurück und stellte sie ans Ende des Tisches. In der Tischmitte stand die Blume und am anderen Ende das Raster mit dem Krepppapier, das auch im Paket gelegen hatte.
»Du versuchst es zuerst«, sagte sie und sah den Jungen lächeln. Sie schlossen alle Türen, zogen alle Jalousien herunter, und der Junge sagte: »Schade, dass dein Robert nicht hier ist. Sonst könnte er hier sitzen, und du könntest seinen Schatten festhalten. Und ihn ausschneiden. Und wenn dein Robert dann sterben würde, dann
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