Letzte Fischer
solchen Mächten nicht im Bunde stehen kann, mit mir, erfährt er gerade an der Vergeblichkeit seines Aufwandes, durch mich, sie zu beschwören. Reine Vernunft, das wäre Windstille auf dem Meer, auf mir, und das wäre tödlich. Reine Vernunft, das wäre, auf einem Stuhl zu sitzen, in einem Zimmer. Das wäre tödlich.
»Du lügst!«
Ich spreche die Wahrheit: Der Hafen ist keine Alternative zum Schiffbruch; er ist der Ort des versäumten Lebensglücks! Du aber wolltest Robert Rösch im Hafen haben. Er aber wollte den Schiffbruch! Und den gab ich ihm! Denn ich bin alles, ich bin das Meer. Ich bin das Böse, und ich fresse die Seele und mache sie zu Plankton, das meine Höllenhunde dann zerfetzen. Die ›Moby-Dicks‹, sie jagen eure Seelen, so lange ich es will! Du! Nicht ich!
Mathilde schüttelte den Kopf, wollte nicht wahrhaben, dass das Meer ihr nun die Schuld zuschob, wollte sich wehren, aber: Hatte sie nicht von der See die Freigabe ihres Mannes gefordert? Hatte sie damit die See nicht wütend gemacht? Hätte sie nicht demütig bitten sollen? Hatte sie die See gegen ihren Mann aufgebracht? Sie sah von Gischt zu Gischt, und in diesem Augenblick wuchs aus der Mitte der See eine riesige Welle heraus und donnerte auf das Land zu. Mathilde sah sie, beobachtete, wie sie immer größer wurde, und warf sich im letzten Moment rücklings hinter den Findling. Das Wasser brach über ihr zusammen, prallte gegen die Steilküste hinter ihr, riss Lehmbrocken ab und spülte faustgroße Steine weg. Mathilde zitterte am ganzen Leib. Sie hatte Robert die Entscheidung aufgedrängt, doch nicht er hatte entschieden, sondern das Meer. Es hatte die Schergen geschickt! Sie war schuld am Tod ihres Mannes! Sie hatte den sprechenden Fisch, sie hatte Poseidon gerufen! Und Poseidon hatte gehört. Aber er hatte keinen Deal machen wollen. Es durchfuhr sie wie ein Blitz: Luise! Ihre Tochter war auch auf dem Meer gefangen!
Der Mensch ist so sehr ein gaffendes Wesen, dass ihm in der Neugierde sogar die Sorge um sich selbst vergeht.
»Was?«
Du nimmst das Gegenwärtige nur als Verlust und Verstellung jeder Orientierung wahr, während dieser den gegenwärtigen Zustand trügerischer Ruhe nach dem Sturm als die unabwendbare Hilflosigkeit für jede künftige Probe erkennt.
»Was denn erkennt?«
Alles, was auf dem Meer, auf mir, geschieht, ist, als wäre es nicht geschehen. Es ist mein großes Nichts, vor dem ihr euch ängstigt und das euch doch anzieht. So klammert euch ruhig an den Felsen, an dem ihr doch scheitern solltet. Oder wolltet? Robert Rösch gewiss. Der Wille, das ist schon seine klassische Bestimmung, geht ins Unendliche und könnte nur enden, indem er sich aufhebt. Das waren Robert Röschs letzte Gedanken. Stille sei tödlich für das Leben, und vor der Stille in eurem Hause hatte er Angst gehabt. Lebensangst.
›Nein! Das waren nicht seine letzten Gedanken. Sie galten mir! Und sie galten seiner Tochter! Sie galten Luise. In der Antike wurde mit dem Tode bestraft, wer einen Delfin getötet hatte! Du dämonisierst mich nicht, verschwinde! Das Grau ist doch zu einem Licht geworden. Schwafle am anderen Ende der Welt, wenn du willst‹, dachte Mathilde, stand auf und kam hinter dem Findling hervor: ›Aber mich halte da raus! Und lass ja Luise in Ruhe! Nimm ihr ja nicht, was sie liebt! Und nimm ihr nicht den Atem!‹
Sobald wir uns unserer Lage bewusst werden, befinden wir uns auf einem brüchigen Schiff, das auf einer von Millionen Wellen dahintreibt. Ich bin das Meer, und das Meer ist alles. Sich bewusst zu werden, heißt, Angst zu bekommen, heißt, den Mut sinken zu lassen. Folge also deinem Mut, ich bin das Meer, und das Meer ist das Nichts. Komm mit deinen nackten Füßen! Komm!
Mathilde sah, wie die Wellen sich zurückzogen, hörte einen Landwind auffrischen und trat einen Schritt nach vorne. Sie blickte zur Seite, spuckte ins Wasser, stieß mit den Füßen Sand gegen die See, äffte sie nach und spürte auf einmal einen starken Arm auf den Schultern. Sie beugte sich ein wenig.
»Mathilde, beruhige dich!«, sagte der pensionierte Kapitän: »Ich weiß genau, was du durchmachst. Ich will dich mit meinen Worten nicht quälen. Ich weiß, dass du jetzt wirr denkst. Ich will dich nur mitnehmen, weg vom Meer! Wir müssen uns hüten vor dem Meer. Wir dürfen der See nie unsere Schwäche zeigen. Dann verhöhnt sie uns und beutet uns aus. ›Die See ist die Seele, und die Seele ist die See‹, wie wir Seeleute sagen, die wir entkommen
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