Letzte Fischer
geliebt, und die Libellen, die wie Helikopter sogar rückwärts fliegen konnten, die hatte sie verehrt. Libellen lebten nur ein halbes Jahr, aber in diesem halben Jahr brachten sie mehr zustande als alle Vögel zusammen. Luise grinste, sie war vernarrt gewesen in Libellen, sie kannte alle Arten und deren Gewohnheiten, und vielleicht verstand sie darum auch ihre Mutter so gut, die sich an den alten Stagg klammerte, den sie noch niemals in ihrem Leben gesehen hatte und den sie wohl auch nie sehen würde. Nie hatte Luise nachgefragt, was Mathilde an Stagg fand, auch Robert hatte nie gefragt. Stagg war eben Stagg , schon immer gewesen. Schon immer da; doch in letzter Zeit hasste Luise das Fliegen, und vielleicht würde auch Mathilde die Mammutbäume eines Tages hassen, vielleicht gerade, weil sie so beständig waren? Luise schürzte die Lippen beim Nachdenken.
Sie verbrannte sich die Zungenspitze und goss Milch ins Mixgetränk. Sie meinte, Robert habe als Stiefvater nicht viel falsch gemacht und auch Mathilde habe eine gute Mutter-Tochter-Beziehung aufbauen können. Offenheit und Vertrauen seien die wichtigsten Punkte in der kleinen Familie gewesen. Und wenn Luise bedachte, was die beiden hinter sich gebracht hatten, ehe sie sich gefunden hatten, dann war sie voll von Respekt gegenüber den Eltern. Sie meinte, Eltern müssen sich Respekt erschaffen, Eltern können ihn nicht erwarten, als wäre er ein Naturgesetz. Er war keines. Luise suchte ihr Feuerzeug und wurde unruhig. Schon wie sie sich kennengelernt hatten! Luise mochte Roberts Version lieber als Mathildes. Sie seien einfach übrig geblieben, nach einer Diskonacht in der Mensa der Universität. Er habe da noch gar nicht studiert und in den Büros des Theaters gearbeitet, doch sie habe sich gerade, von Rügen gekommen, als Studierende eingeschrieben. Die Musik sei schließlich verstummt, die Leute seien in Grüppchen und Gruppen aus dem Mensakeller gegangen oder gewankt, die Stühle seien schon hochgestellt gewesen, als er sie bemerkt habe. Sie und er seien die Übriggebliebenen, die Letzten, gewesen. Zwischen ihnen Unmengen von umgedrehten Stühlen auf den Tischen. Der Betonfußboden habe schon vor Feuchtigkeit geglänzt, als Mathilde sich zur Theke aufgemacht habe und um ein letztes Bier gekämpft habe. Er habe sich das Spektakel nur einen Moment lang angesehen, dann sei er ihr zu Hilfe geeilt. Gemeinsam hatten sie mit dem übermüdeten Barkeeper um ein letztes Bier gerungen, und sie haben gewonnen! Luise lächelte, weil sie sich an Roberts Worte erinnerte. An dieser Stelle hob er immer irgendein Glas hoch und sagte: ›Ja, und da stand sie dann da, die große, riesige Liebe, der sich auch der Barkeeper nicht erwehren konnte. Er sah uns an und wusste Bescheid, noch bevor uns die große, die riesige Liebe am Schlafittchen packte und hinausbeförderte. Mitten hinein in eine wilde, hemmungslose Nacht, die sieben Tage anhielt. L gleich R plus M!‹
Sicher, Mathildes Fassung war anders, das Ende war anders, aber in Luises erster Erinnerung an Robert lag er doch im Bett. Sie war ins Schlafzimmer gestürmt, er hielt ihre Mutter im Arm und sie selbst erschrak sehr über diesen fremden Mann, der ihre Mutter festhielt. Er klopfte auf die Bettdecke, forderte sie auf, auch ins Bett zu kommen, und nachdem sie als Sechsjährige kurz gezögert hatte, landete sie nach einem mächtigen Anlauf mitten auf dem Bett. Und hatten da nicht alle drei herzlich gelacht? Doch! Luise war sich sicher. Sie trank den Kaffee aus, zahlte und schulterte den Seesack, bevor sie zur Eingangshalle ging. Draußen rauchte sie eine letzte Zigarette, obwohl der Flieger aus Kanada schon gelandet war.
Dabei habe doch auch Robert eine so harte Kindheit hinter sich gehabt. Wie er da überhaupt noch freundlich habe sein können? Ohne Vater und ohne männliche Bezugspersonen bei einer verrückten Großmutter und einer gefühlstauben Mutter aufzuwachsen, die sich aller Annäherung entzogen habe, für Luise klang dies grausam. Eine Mutter zu haben, die ihren Sohn als Pflicht ansehe und die von der eigenen Mutter wie eine Sklavin gehalten werde; Luise schüttelte sich.
Robert habe als Kind kaum geredet, er habe viel gelesen, und er habe die Gefühle, gebraucht zu werden, Wärme zu empfangen und unterstützt zu werden, damals nicht kennengelernt. Er kenne keinen Schutz. Er kenne nur jede Menge Abneigung. Versteckte Aggression. Verbittertes Ver stummen. Leicht dahingesagtes letztes Schweigen.
Wenn man Kinder
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