Letzte Fischer
deinen eigenen Schnitt machen! Theodor Maximilian, du kannst selbst etwas hinbekommen, anstatt nur einen Plan zu erfüllen. Du schneidest den Schatten aus.«
Sie sah, wie der Junge überlegte, ehe er sich setzte und nachdenklich den Kakao austrank.
»Weißt du was?«, fragte sie aus einer Laune heraus: »Wir machen das zusammen! Ich bringe es dir bei! Du kannst ja erst einmal was Kleineres versuchen.«
»Ich bin doch kein Mädchen!«
»Ich auch nicht. Nicht mehr«, sagte Mathilde, die plötzlich bemerkte, dass es schon auf zwanzig Uhr zuging: »Wir müssen dich nach Hause bringen.«
»Ich gehe alleine.«
Sie nickte, stand auf und brachte ihn zum Hoftor: »Also, bist du dabei?«
»Mal sehen«, sagte der Junge, der sie nun nicht mehr so durchdringend ansah. Er blickte zu ihr hoch und reichte ihr die Hand. Mathilde schlug ein und sah diesem seltsamen Jungen nach, wie er von Laternenlichtkegel zu Laternenlichtkegel ging. Sie rieb sich die Oberarme, ging ins Haus zurück und dachte daran, wie natürlich sie geantwortet hatte, sie sei kein Mädchen mehr. Als sie diese Worte zum ersten Mal gesagt hatte, da war sie kaum achtzehn Jahre alt gewesen. Es war im Mai gewesen, ihr erster Mai auf der Insel Rügen, als ihr frisch angetrauter Ehemann über sie hergefallen war, fernab aller Dörfer und Städte. In seinem Haus hatte sie keinen Schutz gefunden, sie war ihm ausgeliefert gewesen, und er hatte sie benutzt, so selbstverständlich, als würde er sein Vieh füttern, so brutal, als würde er einer Taube den Hals umdrehen. Es war im Mai gewesen; Eisheilige, und immer hatte er gefordert, dass sie lächeln solle: ›Lächle, meine Mailiebe, lächle!‹
Zehn vor drei, und ihre Mutter stand schon vor der Haustür. Luise gähnte, ehe sie vom Fenster wegging und im Stehen den letzten Schluck Kaffee trank.
Sie stellte die Tasse ins Spülbecken, nahm den Seesack auf und warf ihn sich über die Schulter. Die Wohnungstür zog sie zu, verschloss sie doppelt und stand wenig später in der kalten Mainacht. Eisheilige , waren nicht bald Eisheilige ?
Wie immer war die Kofferraumklappe des Peugeots offen, Luise warf sie mit Schwung zu, nachdem sie den Seesack verstaut hatte, und saß wenig später neben der Mutter, die den Motor startete und schweigend losfuhr.
Auch Luise hatte zum Reden wenig Lust und drückte auf die automatische Sendersuche des Autoradios. Sie legte ihren Wohnungsschlüssel in das Handschuhfach und sagte leise, der Briefkasten müsse nur einmal die Woche geleert werden, das dürfe reichen, und fügte hinzu: »Wenn ich dich und die großen Kartoffeln nicht hätte . . .«
». . . dann müsstest du immer kleine essen!«, beendete Mathilde die Bauernweisheit und gab ein wenig mehr Gas.
Auf der Autobahn Richtung Süden war kaum Verkehr. Sie fuhren zum kleinen Flugplatz, der sich zwischen Güstrow und Rostock befand und eigentlich nur während der Saison frequentiert wurde. Wie oft hatte Luise in den Zeitungen gelesen, er solle geschlossen werden, weil er sich nicht rentiere. Immer hatte ihr der Atem beim Lesen gestockt, weil es den nächsten Flughafen erst wieder in Berlin gab. Oder in Hamburg. Luise mochte diese großen Flughäfen nicht, schon gleich gar nicht mitten in der Nacht. Nachts lieber einen kleinen, verträumt wirkenden, leeren Provinzflugplatz.
»Du warst kaum zwei Wochen hier!«, sagte Mathilde, als sie die Ausfahrt ›Flughafen Laage‹ nahm.
»Ja, das ist wohl wahr«, sagte Luise, willens, sich auf keine Diskussion einzulassen.
»Na ja, vielleicht bleibst du nächstes Mal ja länger«, hoffte Mathilde: »Aber das sag ich deinem Vater ja auch immer zum Abschied.«
Sie wusste es ja besser, und sie lächelte, als sie feststellte, dass sie nur noch in Wünschen sprach. Sie parkte das Auto vor dem Eingang und hielt Luise schweigend die Kofferraumklappe auf.
»Halb vier, ich checke schnell ein, und ein Kaffee wird uns dann gut tun«, sagte Luise, ohne nervös zu werden, war ein weiterer großer Vorteil von Provinzflugplätzen doch, dass man schon mal zehn Minuten vor Abflug kommen konnte und trotzdem noch abgefertigt wurde. Sie schlenderte zu den Schaltern, von denen nur einer geöffnet hatte, und grüßte schon von weitem.
Das Servicepersonal kannte sie bereits seit langem; sie und ihren unverwüstlichen Seesack. Schnell waren auch die Formalitäten erledigt, und als Luise sich zu ihrer Mutter an die Theke setzte, standen dort die Kaffeetassen bereit. Luise trank einen Schluck und goss sich dann erst
Weitere Kostenlose Bücher