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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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möglich. Sie hatte von einem Kollegen gehört, der einmal eine ganze Woche unterwegs gewesen sei. In einem Taxi. Allerdings sei das auf Grönland gewesen.
    »Was steht denn noch in deinem schlauen Buch?«, fragte Luise, ohne sich umzudrehen.
    »Was über Trauer.«
    Nach einer Weile sagte sie nachdenklich: »Lies vor.«
    Das Leben gehe weiter, mit diesen Worten wolle man jemanden trösten, der untätig am Rande sitze und noch ein wenig trauern möchte.
    Ein starker Arm lege sich um dessen Schulter und führe ihn zurück an seinen Arbeitsplatz. Die Arbeit werde ablenken, so laute der zweite Titel jener Trostkur, die Heilung durch Verdrängung verspreche.
    Aber gerade diese Versprechung habe für den Trauernden keinen Wert. Gerade verdrängen wolle der Alleingelassene seinen Schmerz nicht. Er wolle ihn nicht verschieben. Er wolle ihn nicht unterdrücken. Er wolle ihn nicht preisgeben.
    »Sehr richtig!«, sagte Oleg, und sein Bruder nickte.
    Gewiss habe die Verschwundene dem Trauernden niemals näher gestanden als jetzt, da er sie so lebhaft entbehre. Er brauche Stillstand. Nicht Beschäftigung. Er brauche Urlaub zum Erinnern. Er brauche Flitterwochen, die Schattenseite der Flitterwochen brauche er.
    »Ein kluger Mann spricht da!«, sagte wieder Oleg und erneut nickte sein Bruder, ehe er leise flüsterte: »Botho Strauß. Klingt nach nichts.«
    Thomas legte das Buch leise weg und sah in sein Gesicht, das von der Fensterscheibe gespiegelt wurde.
    Vielleicht sei es eine dumme Idee gewesen, jetzt und hier schon wieder von Leonard anzufangen, grübelte Thomas, aber dieser Dichter, habe er nicht etwas berührt, das er selbst so gut verstanden habe und unbedingt habe weitergeben wollen?
    Verstohlen sah er zu seinen Kameraden, die mit ernsten Gesichtern dasaßen. Und auch Luises Blick war heruntergefallen, konnte Thomas durch den Rückspiegel sehen.
    Leonard war das Küken ihrer Einheit gewesen, und auch Thomas hatte gemerkt, dass er Luise viel bedeutet hatte. Na und? Leo war eben ein echter Löwe gewesen. Er war der Punkt gewesen, um den sie sich geschart hatten. Und nun fehlte ihnen dieser Mittelpunkt. Schmerzlich war die Leere immer noch, obwohl nun schon fast ein Jahr vergangen war. Sie waren in einen Hinterhalt geraten.
    Leonard war Franzose gewesen. Er hatte ein paar Jahre Fremdenlegion hinter sich gebracht, hatte diese dann aber verlassen, weil er einmal zu oft gedemütigt worden war.
    Leonard war geflüchtet, auch raus aus Frankreich, und hatte sich in Brasilien bei der Sicherheitsfirma gemeldet. Natürlich war er sofort genommen worden. Vor vierzehn Monaten war er in ihre Einheit gekommen, und klar, Thomas grinste, erst hatte es ihn angestunken, von einer Frau befehligt zu werden. Er war eben kein gutmütiger Tscheche, Leo stammte aus dem felsigen Norden Frankreichs, wo es noch richtige Hitzköpfe gab. Luise hatte ihm trotzdem den Kopf zurecht gerückt, und das war eine große Leistung gewesen! In nur zwei Monaten. Thomas nickte seinem Spiegelbild zu und richtete sich auf.
    »Entschuldigt, Leute«, sagte er: »Dass ich mit diesem Zeug angefangen habe. Entschuldigt, ich hätte das blöde Buch zu Hause lassen sollen.«
    Luise nickte: »Hättest du, wenn du es gekonnt hättest. Hast du aber nicht, weil du es nicht gekonnt hast.«
    »Thomas kann alles, was er will«, sagte Oleg, und wieder nickte der Bruder, ehe Oleg hinzufügte: »Nur alleine trauern, das kann er nicht.«
    Und gerade wollte Luise erwidern, dies könne niemand, als der Taxifahrer leise zu singen begann: »›Schießest du auf Väinämöinen, töte nicht den Sohn Kalevas! Schießest du auf Väinämöinen, tötest du den Sohn Kalevas, schwindet Freude von der Erde, schwindet der Gesang von hinnen. Besser ist die Freud auf Erden, schöner der Gesang hier oben, als in Unterweltgefilden, in des Totenreiches Räumen!‹ – Und alle!: ›Schießest du auf Väinämöinen, töte nicht den Sohn Kalevas! Schießest du auf Väinämöinen, tötest du den Sohn Kalevas!‹«
    Verblüfft sahen die Fahrgäste den Fahrer an, der erklärte, er habe lange Zeit in Deutschland gelebt.
    Was er da singe?
    Den Refrain des finnischen Nationalepos. Er sei Finne. Es sei der beste Trauergesang, den die Welt je gehört habe. Wenn die Finnen eines können, dann sei es das einsame Trauern in ehrlicher Melancholie.
    Erneut forderte er die Kämpfer auf zu singen, und diesmal stimmten sie mit ein. Auch wenn sie alle den einen Namen falsch aussprachen, so fanden sie doch schnell wieder in

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