Letzte Gruesse
dachte Alexander. Also doch Jail .
Er stellte seine Taschen ab und kratzte sich den Handrücken. Das Zimmer diente der Finanzverwaltung als Magazin für ausrangierte Akten. Daher fehlte ein Fernsehapparat! Gern hätte sich Alexander die neuesten Abenteuer von Heckle und Sheckle angesehen. Damit war es nun nichts.
Er stellte sich ans Fenster und blickte über die Mauer hinweg in die Stadt. Auf gar keinen Fall würde er sich dort ergehen, das gab er sich schriftlich. Alles durchstehen und unversehrt nach Hause zurückkehren, das war die Devise,«Unruhig in unruhiger Zeit», mittlerweile gab es einiges zu erzählen.
Nach anderthalb Stunden, die Alexander auf dem Bette sitzend verbrachte, das Notizbuch ungeöffnet neben sich, tief in die Überlegung versunken, ob er hier nun wirklich abgeholt wird. Und dann wurde er tatsächlich geholt. Bloomer wollte ihm die Bibliothek zeigen, deren Rückfront fensterlos-modern er schon betrachtet hatte: ein Marmorkubus, in dem zur Belichtung hier und da hauchdünn geschliffene Rosenquarzplatten eingelassen waren. Das Licht spiele von draußen in die ansonsten dunklen Räume hinein«in den zauberhaftesten mildesten Farben», wurde gesagt, außerordentlich wohltuend für die Augen … Da es regnete, war der Effekt im Innern jetzt nicht auszumachen, aber es mochte seine Richtigkeit damit haben. Sonderbar kamen Alexander die zahlreichen Elektrostrahler vor, die grelles Licht auf Vitrinen mit mittelalterlichen Manuskripten warfen.
Um der hier zuständigen leitenden Archivarin einen Gefallen zu tun, startete Alexander einen Test: Er möchte gern ein Goethe-Manuskript sehen, sagte er zu der Dame, die lange Fingernägel hatte und eine Überlandleitungsbrille trug. Ob sich das machen lasse? Oder habe man so was hier nicht vorrätig?
Goethe? Aber sicher doch. - Einen Augenblick.
Die Dame tippte«Goethe»in ihren Computer, und wenige Minuten später kam ein Korb angeschaukelt mit einer blauen Mappe, in der sich Wäschelisten von der Hand des Olympiers befanden. Soundso viele Hemden und soundso viele Taschentücher. Professor Bloomer guckte seinen Gast triumphierend an. Sowtschick wollte danach greifen, aber das wurde sofort unterbunden. Hätte nicht viel gefehlt, und ihm wäre auf die Finger geschlagen worden.
Die Manuskriptesammlung sei das Herzstück der Bibliothek, wurde gesagt. Jefferson, Livingstone, Rilke und natürlich Thomas Mann! - Vor ein paar Tagen habe man von Adolf Schätzing den Entwurf eines Essays ankaufen können, ein außergewöhnlicher Glücksfall! Entwürfe zu«Definitionen IV und V», persönliche, handschriftliche Notizen des Verfassers in zweierlei Farbe. Freilich habe der Mann natürlich ganz genau gewußt, was das wert ist!
Das Manuskript lag noch im Regal, und Alexander durfte es betrachten. Er nahm die Brille ab und studierte es. Er wunderte sich über die zierliche Schrift seines Kollegen, er hatte gedacht, er würde etwas Ungeschlachtes zu sehen kriegen, etwas auf«genialisch»Gemachtes, aber dies? Da war ja schon die Grenze zur Kalligraphie überschritten. Wahrscheinlich ist er eitel, dachte Alexander, eitel bis dort hinaus …
Träumte er? Oder war er verwirrt? Las er nicht auf einem der Zettel«Harvest on Sea»? Mit Fragezeichen und Pfeil versehen! Das war ja hochinteressant!
Alexander zog sein Notizbuch aus der Tasche und notierte sich das: Schätzing,«Harvest on Sea», und versah diese Eintragung ebenfalls mit Fragezeichen und Pfeil.
Die Dame wollte sehen, was er da schreibt. Er schob ihr das Notizbuch zu: Ob das nicht was wär? Auch das stünde zum Verkauf. Das wär sozusagen noch warm, ob das nicht was wär?
Aber die Dame schob es ihm mit ihren langen Fingernägeln wieder zu, ganz so, wie es ihm in New York mit der famosen Kreditkarte der Sassenholzer Raiffeisenbank gegangen war.
Wie gut, daß sie es nicht will, dachte Sowtschick, denn er erinnerte sich daran, daß er auf den letzten Seiten des Notizbuchs das Aktzeichnen geübt hatte, wie die ganz Dünnen gebaut sind und die ganz Dicken, das hatte er mal systematisch ergründen wollen.
Zur Lesung band sich Sowtschick einen Schlips um und schritt, von Herrn Bloomer geleitet, an Rasenflächen vorüber, auf denen selbst zu dieser späten Stunde junge Leute herumlagen, in die spitzbögige Aula hinein, wo auf Kirchenbänken schon einiges Volk versammelt war. In der ersten Reihe nahm er Platz. Leutselig dem Publikum zuwinken, das täte man hier wohl lieber nicht …
Wer hatte hier
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