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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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man dort hinter Sowtschicks Namen das Minuszeichen ausradierte und durch ein rotes Plus ersetzte.
     
    Es war noch eine halbe Stunde Zeit, Alexander mußte die Bibliothek besichtigen, bei«S»zeigte sich eine Zahnlücke in der Bücherreihe, hier hatte sich Dr. Neubert wohl in letzter Sekunde noch bedient … Alles wurde ihm gezeigt, das Büro, die Buchhaltung, die Unterrichtsräume. Fremdsprachen würden in Amerika häufiger von Frauen studiert als von Männern, sagte Neubert, französisch mehr als deutsch, weil es als sexy gelte.
     
    Die Menschen, die zusammengekommen waren, ließen sich schwer zählen, weil sie hin und her liefen, sich Großfotos ansahen, die man an die Wand gepinnt hatte - das Heidelberger Schloß hinter blühenden Mandelbäumchen und das«Brusttuch» in Rothenburg ob der Tauber, einer Stadt, die die Amerikaner Ende des Krieges mit Feldhaubitzen beschossen hatten, ohne Rücksicht auf Fachwerk und mittelalterliches Gemäuer. Aber jetzt war ja längst alles wieder aufgebaut. Schöner sah es aus als je zuvor.
     
    Eine Frau aus Herzogenrath erzählte von der Schätzing-Lesung letzte Woche. Also das sei nicht so ganz ihr Fall gewesen. Man habe hinterher noch mit ihm diskutieren wollen, aber nein, gleich weggegangen.
    In der Ecke links standen junge Frauen. Wahrscheinlich Studentinnen der Germanistik! Es war also doch noch einiges zu erwarten in dieser Stadt - immerhin drei Universitäten!
    Das deutsche Ehepaar aus dem Hotel war natürlich nicht zu sehen. - Das Mädchen vom Reiterstandbild natürlich auch nicht. Lumpazivagabundus: Alexander konnte sich schon gar nicht mehr an sie erinnern. Nur daß da was gewesen war, daran erinnerte er sich. Ins Tagebuch besser nicht schreiben diese Sache.
     
    Dann wurde in die Hände geklatscht, es war soweit.
    Man setzte sich, und Neubert führte Alexander ein, und er tat das gar nicht mal schlecht. Sprach von intensiven Bildern, von gründlichen Erörterungen, in spannende Handlung verpackt. Von hinreißender Komik sprach er auch, die sei bei Alexander Sowtschick ebenfalls zu finden, also, kurz: für jeden etwas. Jedenfalls halte er dafür, daß man seine Bücher anders lesen müsse, als das bisher geschehen sei: Sie seien hintergründiger und absolut doppelbödig.
    Zum Schluß meinte er dann noch, so wie die aufgebrachten Arbeiter hier im Hafen von Boston vor zweihundert Jahren den Engländern die Teeballen ins Meer geworfen hätten, so scheine es jetzt im Osten Deutschlands das Volk zu sein, das sich anschicke, das Joch abzuschütteln …
    Was für’n Joch?, schienen sich die Leute zu fragen, und das blieb unerörtert.
    In der ersten Reihe saßen drei Herren. Das waren offensichtlich Professoren. Von jeder der drei Universitäten einer? Sicher würden die ihm erklären können, woher sich das Wort«envelope»letztlich ableite.
    Sobald sein Name gefallen war, standen die drei Herren allerdings auf, machten ein Gesicht wie greinende Wasserspeier: Sie hören wohl nicht richtig? Sowtschick?? Sie hatten gedacht, Schätzing halte einen Vortrag … Hatte das nicht auf dem Zettel gestanden? Nein, nicht? … Vorige Woche schon? Da hatte man sich also geirrt? Und sie verließen polternd den Saal.
    Man hatte schließlich seine Zeit nicht gestohlen.
     
    Sowtschick war unschlüssig, ob er nun was Komisches lesen sollte, was Erschütterndes oder was Erörterndes . Er entschloß sich, zunächst etwas Ernstes zu bringen, dann was Spannendes und schließlich eine in Komik eingepackte Liebesgeschichte älteren Datums. Und während er las, guckte er sich die Zuhörer an, insbesondere die jungen Frauen hinten links. Und es schien ihm so, als werde ihm von dort ermutigend zugenickt.
     
    Exakt nach sechzig Minuten machte Alexander Schluß. Es wurde reichlich applaudiert und sodann zu Häppchen geschritten, sogenannten Sekt gab es, und Neubert postierte sich am Ausgang, damit nicht alle Leute sofort wieder weggehen. Er hielt sie dort ein wenig auf, verwickelte sie in Gespräche. Ob sie das nächste Mal auch ganz bestimmt wiederkommen, fragte er sie fast flehend. Seine Frau stand am rückwärtigen Ausgang und tat es ihm gleich: Ob sie auch ganz bestimmt das nächste Mal wiederkommen?
    Das rührte Alexander. Es ging schließlich um«Deutschland»…
     
    Nun mußten die jungen Frauen von dem Gros der noch verbliebenen Gäste abgetrennt werden. Nach Art eines Schäferhundes sortierte Alexander die Sache durch sachtes Drängen und Umkreisen. Schließlich stand er mitten unter der

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