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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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nicht schon alles gelesen! Hermann Broch zum Beispiel, Thomas Mann natürlich, und sogar Dickens! Vielleicht auch Eliot?
    Ob ihm das nicht komisch vorkommt, daß er sich an so hervorgehobener Stelle vernehmen lassen darf, sagte Bloomer noch, ehe er ihn allein ließ, weil er noch eben mit seinem Kollegen sprechen muß, ob der das Skript hat für die Konferenz morgen … Nein, komisch kam Alexander das nicht vor. Eher bedrückend.«Kaum einen Finger breit»? Meilenweit war er entfernt von dem Geist, der sich hier abgelagert hatte; materialisiert wie Staub hatte er sich an die Wände angeschichtet. Die Gipsausgüsse in Pompeji, gekrümmte Menschen, winkte da mal wieder eine weiße Hand?
     
    Es kamen immer noch Menschen, sie saßen bereits dicht an dicht, und das Gestühl knarrte wie eine Brigg bei Flaute. Die Jugend draußen auf dem Rasen, die würde man freilich nicht erreichen. Wohin, wohin soll ich, o mein Geliebter, ziehn?
     
    Wie gern hätte er jetzt neben Marianne gesessen, seine Hand in der ihren. Wie schön war es immer gewesen, wenn sie ihm beispielsweise eine einzige Brombeere in einer weißen Schale auf den Tisch gestellt hatte: wie harmonisch die Natur gestaltet ist … Oder abends das Bett aufgedeckt, in das er dann bloß noch hineinzusteigen brauchte.
    Ein freudiges«Ja!»würde er ausrufen, wenn er gefragt werden würde: Alexander Sowtschick, wollen Sie diese Frau noch einmal heiraten? Vierzig Jahre und eines immer schöner als das andere?
     
    Er saß hier jetzt in der Aula der berühmten Universität Yale, und zwar in der vordersten Reihe, auf seinem Stuhl lag ein Papier: Reserved. Während es hinter ihm raunte und flüsterte, gelang es ihm, sich autogen zu beruhigen: An große Auftritte dachte er, in Freiburg, Marburg, Kiel und Untersassenfeld … Und an die vielen Menschen, die ihn immerfort zu Hause aufsuchten, als wollten sie von ihm gesegnet werden.
    Ehe es noch losging, kam eine Frau zu ihm hergestürzt, stolperte so halb zu ihm hin - sie wollte ihm mitteilen, daß auch sie aus Sassenholz stammt, ihr Mann betreibt jetzt in New Haven ein Geschäft für deutsche Wurstwaren und dunkles Schrotbrot. Alexander sagte, daß ihn das freut, die Welt ist ein Dorf, und vielleicht trifft man sich ja mal wieder irgendwo? Vor ein paar Tagen habe er die Spuren des Lehrers von Klein-Wense verfolgen können … das sei doch auch ein sonderbarer Zufall. Klein-Wense? Die Frau konnte das nicht nachvollziehen, das sei wohl vor ihrer Zeit gewesen, ihr Lehrer habe Marquart geheißen, zu dem hätten sie immer«Olling»gesagt.
    Alexander war froh, daß sich die Frau entkrallte, wie hätte der Abend sonst seinen Fortgang nehmen sollen?
     
    Zur Einführung sprach Bloomer von intensiven Bildern, die die Prosa dieses deutschen Autors beherrschten, und von spiraligen Erörterungen in seltsam spannende Handlung verpackt. Von hinreißender Komik seien seine Bücher bestimmt, streckenweise fast angelsächsischen Charakters. Auch Erschütterndes komme darin vor und durchaus auch Kritisches: Für jeden etwas enthielten sie, jedenfalls sei es geraten, daß man seine Bücher anders lese als bisher: Sie seien hintergründiger, doppelbödiger, kurz gesagt: böser. Auch dieser Mann hatte offenbar den Verlagsprospekt zu Rate gezogen.
    Die Kritik sei ihm in vielem nicht gerecht geworden, wurde hinzugefügt, und Alexander atmete tief auf. Ja, das war wahrlich wahr. Sein letzter Roman war unter«Kritik in Kürze»abgetan worden, und das hatte ihm weh getan.
     
    Nun war er selber an der Reihe, nun gab es kein Zurück.
    Er versuchte, sich gegen das Dröhnen der Klimaanlage Gehör zu verschaffen - hatte man sie lauter gestellt? Von zwei auf drei? Gegen das infernalische Geräusch kam er nicht an. Schließlich stand jemand auf, machte knips! Und da war Ruhe im Schiff. Dieser Mann habe im gesamten Komplex die Anlage abgeschaltet, wurde später erzählt, das habe zur Überhitzung der Turbinen geführt, mit knapper Not sei eine Katastrophe verhindert worden.
    Es sei ihm eine Ehre, sagte Sowtschick,«meine Damen und Herren», von demselben Pult aus lesen zu dürfen, an dem so berühmte Autoren wie Hermann Broch, Eliot und Thomas Mann gestanden hätten, ja sogar Dickens! Und er bewundere die altehrwürdige Universität mit der einzigartigen Bibliothek, in die er schon einen Blick habe werfen dürfen. Auch das Archiv habe er besichtigt, und die liebenswürdige Leiterin des Handschriftenarchivs habe ihm eine Wäscheliste von Goethe gezeigt! Einen

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