Letzte Haut - Roman
das war zum Himmel schreiendes Unrecht, und der Schmeißer, diese Sau, verhöhnte ihn auch noch. ‚Jedem das Seine‘, so ein Arsch, ganz richtig, der bekam noch das Seine, aber ganz gewiss! Kurt Schmelz grinste mit heruntergezogenen Mundwinkeln und stocherte weiterhin in den Ritzen zwischen den Katzenköpfen herum. Die Zähne aufeinanderbeißend, Augen und Hand geschlossen, drückte er die Kippe auf dem Handgelenk aus, ließ sie fallen, und sah sich die kreisrunde Wunde an, die ganz gelb vor Eiter wurde, musterte sie, als befände sie sich auf fremder Haut.
Er leckte die hängengebliebene Asche ab und reimte: ‚Vom Schiff geschubst, in die See gestürzt / Rettung adé, Ersaufen tut weh.‘
„Daher“, schrie er laut und nüchtern auf: „Braucht es ein Deutsches Ministerium für internationale Zusammenarbeit und Weltwirtschaftsrecht, weil es nur damit eine dauerhafte Friedenssicherung geben kann, und ich, ich!, ich wollte dieses Ministerium gründen! Ich!“
Hitler, du Schwuchtel, dachte Schmelz und flüsterte: „Und diesem neuen Ministerium vorzustehen, erkläre ich mich bereit. Meine langjährigen Erfahrungen am Landgericht in Stettin, wo ich auch das internationale See- und Zollrecht ausführlich studiert habe, sollten Voraussetzung genug sein, mich auf diesen Posten zum Wohle der Friedenssicherung und wider der Kriegspropaganda wirken zu lassen. Ich danke für das in mich gesetzte Vertrauen und bin nun zur Vereidigung bereit. – Ich schwöre, ich schwöre! Ha, ha, ich schwöre! Nichts schwöre ich und niemals! – Wie konnte ich mich nur gegen sie stellen? Wie? Kann man in diesen Tagen überhaupt noch unpolitisch sein? Man muss! Ein Mann muss es, wenn er Richter ist.“
Kurt Schmelz lehnte sich zurück, spürte die feuchte Kälte der Hauswand sofort wieder, drückte vier Fingernägel in die Kopfhaut, wobei eine neue Zigarette einige der blonden Haare verbrannte, drückte sich seitlich gegen die Treppenmauer, sah auf die langen und schmalen Finger der anderen Hand, die auf dem Schenkel lagen, und fragte sich, was er mit ihnen anfangen solle. Mit all den Händen, den Armen, den Schultern und Beinen, nichts, gar nichts fiel ihm ein, als drei Kinder um die Ecke gerannt kamen und über seine langen Beine stolperten. Sie waren schon außer Reichweite, als eines von ihnen stehen blieb, sich umdrehte und Schmelz zurief, einer seiner Schnürsenkel wäre offen. Er nickte, bedankte sich, prüfte die Schuhe, als ein anderes Kind lachend rief: „April, April! – Der macht, was er will.“
Kichernd rannten die Kinder weiter, und der Anführer der Deutschen weihte achtzehn Tage später im Rahmen eines Festaktes anderswo den ersten Teil der Ost-West-Autobahn ein.
Am Abend zuvor war gegen den Rektor eines städtischen Gymnasiums ein Prozess geführt worden, dem der Vizepräsident des Amtsgerichts Stettin vorsaß. Beisitzender Richter war Doktor Kurt Schmelz, dem mehr und mehr klar wurde, dass es sich hier um eine politische Sache handele. Schmelz war jung, und dies war sein erster Beisitz als mitverantwortlicher Richter.
Dem Rektor wurde vorgeworfen, das Züchtigungsrecht missbraucht zu haben. Er war der schweren Körperverletzung an Kindern angeklagt, doch Schmelz wurde misstrauisch, als er bemerkte, dass sich nur Mitglieder der Hitlerjugend als Zeugen fanden. Kein anderer Schüler bestätigte diese Angaben. Schmelz erkannte, der Rektor solle ins Gefängnis gebracht werden, um seinen Posten mit einem Parteimitglied besetzen zu können. Erst wollte Schmelz nicht wahrhaben, dass hier die Politik befahl und das Gesetz kuschte, doch als sich einige Zeugen der Anklage in absurde Widersprüche verhedderten, stellte er fest, öffentlich und protokolliert, dass hier seiner Ansicht nach das Recht gebeugt werden solle, dass es zu Ungunsten des Angeklagten gebeugt werden solle und dass er die Mitwirkung an dieser Urteilsfindung daher konsequent ablehne. Er konfrontierte den vorsitzenden Richter und auch alle anderen im Saal mit der politischen Motivation des Prozesses. Er verwies darauf, dass eine Verurteilung wegen wiederholter Körperverletzung und Misshandlung bei Schutzbefohlenen nach dem Paragraphen zweihundertsechsundzwanzig des Reichsgesetzbuches dreißig Jahre Zuchthaus bedeute, und meinte, dies könne unmöglich im Sinne des Herrn Vizegerichtspräsidenten sein. Es folgte ein öffentlich ausgetragener Streit zwischen Schmelz und dem vorsitzenden Richter. Beide wurden sehr laut, die Hitlerjugend johlte und stampfte
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